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Hundert Jahre Retrograde Analysis
von Thomas Brand (Bornheim) 1
Vor hundert Jahren, im Dezember 1915, erschien in der White'schen Christmas-Serie der Band Retrograde Analysis von Thomas Rayner Dawson und Wolfgang August Eduard Hundsdorfer.2 Bemerkenswert ist nicht so sehr, dass sich zwei Autoren zusammentaten, um dieses Werk zu verfassen, sondern dass dies zu dieser Zeit überhaupt so möglich war: Dawson (* 28. November 1889 in Leeds, † 16. Dezember 1951 in London) war Brite, Hundsdorfer (* 27. November 1879 in München, † 16. Januar 1951 in Freising) war Deutscher - und zwischen Großbritannien und dem deutschen Reich herrschte seit dem 4. August 1914 Krieg.
Dieses Buch ist nicht das erste, das sich mit "Retro-Aufgaben" beschäftigte: Das dürfte The Twentieth Century Retractor, Chess Fantasies, and Letter Problems von Edith Elina Helen Baird ("Mrs. William James Baird") gewesen sein, das im Jahre 1907 erschien und überwiegend Hilfsretraktoren behandelte.3
Die Autoren
Beim Erscheinen ihres Buches waren beide Autoren noch recht jung - Dawson gerade 26 Jahre alt, Hundsdorfer fast auf den Tag zehn Jahre älter, dennoch waren sie bereits als kreative Aufgabenverfasser meist außerhalb des damaligen "Mainstreams", der orthodoxen Mattaufgaben, hervorgetreten.
1
Thomas R. Dawson
Cheltenham Examiner
3. VII. 1913
#2(8+12)
=
Grashüpfer
2
Thomas R. Dawson
Reading Observer
28. XII. 1912
#2 (6+1+3)
3
Wolfgang Hundsdorfer
Sammler 1906
s#3 (8+7)
4
Wolfgang Hundsdorfer
Münchner Neueste
Nachrichten 1906
s#4 (9+3)
Das Buch
Alle folgenden Aufgaben sind der Retrograde Analysis entnommen; die Erläuterung der Lösungen habe ich teilweise deutlich ausführlicher vorgenommen, als sie im Buch angegeben sind, um auch "Retro-Laien" deren Verständnis zu erleichtern.
Das Buch stellt 100 Aufgaben vor, zu den meisten werden zum Vergleich oder zur Vertiefung zwei weitere Stücke zitiert. Zunächst werden anhand von 15 Aufgaben "illegale Positionen" vorgestellt, die so nicht aus der Partieanfangsstellung erspielt werden konnten. Dawson und Hundsdorfer führen hierfür den Begriff "illegal" an Stelle des damals meist verwandten Begriffs "unmöglich" ein, denn sie verweisen auf eine Argumentation à la Loyd: Die Stellung sei selbstverständlich "möglich", da der Autor ja die Steine selbst so aufs Brett gestellt habe. Diese sophistische Argumentation ist bei dem Begriff "illegal" nicht mehr möglich.
5
Leonard. N. de Jong
Op de Hoogte 1912
#2 (9+2)
6
Thomas B. Rowland
Leeds Mercury 1896
#2 (12+4)
Von solchen "Faschingsproblemen" abgesehen beschäftigte sich die Retroanalyse damals fast ausschließlich mit zwei konkreten Themen: dem En-Passant-Schlag im Schlüssel sowie dem Nachweis der Illegalität von Rochaden, jeweils im Kontext orthodoxer Vorwärtsforderungen. Diese beiden Themen werden in den größten Abschnitten des Buches behandelt; sie geben damit einen quasi vollständigen Überblick über die Darstellungsmöglichkeiten dieser beiden Themen bis 1915, teilweise in Form von Nachdrucken, teilweise aber auch in Originalaufgaben, überwiegend von Dawson und Hundsdorfer selbst.
En-Passant-Schlag im Schlüssel
7
Max Lange (Anonymus)
885 Schachzeitung II/1858
Weiss zieht und (8+5)
soll
auf die kürzeste
Weise matt setzen. Matt
in wie
viel Zügen?
Dies dürfte die erste (korrekte) Retroaufgabe sein5 - und damit ist Retroanalyse zwei Jahre älter als das Hilfsmatt: Die erste korrekte Darstellung eines Hilfsmatts (von Loyd) erschien im November 1860, siehe P0516986.
In der Folgezeit suchten die Aufgabenverfasser, die sich mit dieser Thematik beschäftigt haben, nach immer subtileren Begründungen für e. p.-Schlüssel. So weist Harrie Grondijs auf einen Briefwechsel zwischen William Henry Russ und Eugene Beauharnais Cook bereits aus dem Jahre 1859 hin, in dem Russ einige eigene Aufgabenentwürfe mit ep-Schlag vorstellt, der dadurch möglich wird, dass Zusatzinformationen zur Stellung gegeben werden, etwa: Die letzten drei weißen Züge waren Schachgebote. Möglicherweise wurde Cook's Aufgabe Nr. 54 in Retrograde Analysis (PDB P0002094) durch den Briefwechsel der beiden inspiriert. (Persönliche Kommunikation Grondijs / Brand, Oktober 2015)
8
Sam Loyd
New York State Chess
Association 16. VIII.
1894
#4 (14+10)
Was war nun Schwarz' letzter Zug? 0.- b7-b6 scheidet aus, da er sLc8 absperren würde, der jedoch (auf b3) vom weißen a-Bauern geschlagen werden musste. Offensichtlich können sKg4 und sBf4 keinen letzten schwarzen Zug zurücknehmen, aber warum geht nicht 0.- f6-f5 - kein illegales Königsschach?! Aber in diesem Falle hat Weiß keinen letzten Zug, er ist also retropatt! Also muss 0.- f7-f5 der letzte schwarze Zug gewesen sein, und der En-Passant-Schlag ist zulässig. (0.- e7-e6 würde den sLf8 aussperren, der aber als Schlagobjekt für die weißen Bauern benötigt wird.)
9
Wolfgang Hundsdorfer
Norwich Mercury 1909
(15+6)
10
Wolfgang Hundsdorfer
Deutsches Wochenschach
1909
1. Preis
#3 (13+12)
11
Thomas R. Dawson
Falkirk Herald
17. VI. 1914
#2 (11+6)
Illegalität von Rochaden
12
Sam Loyd
The Musical World 1859
(2+4)
Auch bei diesem Thema haben sich die Verfasser in der Folgezeit damit beschäftigt, möglichst versteckte Argumente für die Illegalität schwarzer oder auch weißer Rochaden zu finden.
13
Francis Charles Collins
Sheffield Independent 1886
3. Preis
#2 (12+12)
14
Thomas R. Dawson
Natal Mercury 1913
#2 (15+14)
Stellen wir also die sD gedanklich wieder nach d8; erst dann kann c7:Lb6 zurückgenommen werden, weil sonst die sD ausgesperrt bliebe, wenn wir voraussetzen, dass der sK noch nicht gezogen hat. Nun bringt Weiß so schnell wie möglich Lb6 nach Hause. Während dieser Zeit kann Schwarz nur Züge seiner g" und h-Bauern zurücknehmen; sBa5 muss noch stehen bleiben, um sTa8 wieder nach Hause lassen zu können.
Spielen wir nun zurück: R 1.Lc5-b6 g4-g3 2.Ld6-c5 g5-g4 3.Lg3-d6 g6-g5 4.Le1-g3 h6-h5 (g7-g6 kann erst zurückgenommen werden, wenn sLf8 wieder zu Hause ist!) 5.Ld2-e1 h7-h6 6.Lc1-d2, und bevor Weiß nun endlich d2:c3 zurücknehmen kann, muss Schwarz noch einen Tempozug durchführen. Und dafür stehen ihm nur sKe8 oder sTh8 zur Verfügung, Schwarz darf also in der Diagrammstellung nicht mehr rochieren.
15
Thomas R. Dawson
Magyar Sakkvilag 1914
#2 (12+16)
Schwarz kann im Moment noch keinen dieser Schläge zurücknehmen, da ja auch die beiden Be2 und Bf2 geschlagen wurden. Damit dies funktionieren kann, mussten beide Bauern (schlagfrei) umwandeln, daher kann Schwarz z. B. e6:d5 erst zurücknehmen, wenn der entwandelte e-Bauer schon mindestens bis e5 zurückgenommen hat.
Überlegen wir uns zusätzlich, wie der Käfig im Nordosten des Diagramms aufgelöst werden kann: Hierzu muss sSg7 befreit werden, damit er auf d8 den Le8 freispielen kann, indem er die Batterie wTd(c)8/Le8/Kf8 aufhebt. Die Befreiung des Springers kann aber nur ein einziger Stein auf dem Brett durchführen, nämlich wTh1 - und damit ist die weiße Rochade unzulässig!
"Neue" Retro-Typen
16
Thomas R. Dawson
100 Retrograde Analysis
1915
(16+9)
Mit nur sieben Aufgaben ist auch der Abschnitt "Analysis as the Sole Aim" (also "Analyse als einziger Zweck" oder sehr frei übersetzt "Retroanalyse ohne Vorwärtsforderung") zahlenmäßig recht schwach besetzt, aber nach meinem Eindruck (siehe weiter unten) von besonderer Bedeutung. Hier geht es also nicht um Schlussfolgerungen für den Schlüsselzug im Vorwärtsspiel, sondern ausschließlich um "historische Betrachtungen" der Diagrammstellung, um die Auflösung der Stellung zurück zur Partieanfangsstellung. Hierbei sind üblicherweise nur die Rücknahme-Züge interessant, die die Stellung so freispielen, dass die weitere Rücknahme klar ist, bis also ein meist vorhandener "Retroknoten" aufgelöst werden kann.
17
Thomas R. Dawson
Pittsburgh Leader 1913
(10+15)
Warum kann die Stellung nicht aufgelöst werden, wenn Weiß mit den Rücknahmen beginnt? Dann müsste er offensichtlich einen weiteren Bauernzug zurücknehmen, bevor sein König pendeln kann. Aber a3-a4? würde wTa1 von seinem Ursprungsfeld ausschließen: Er kann ja erst entschlagen werden, wenn wLf1 zu Hause und nach e2-e3 eingeklemmt ist, so dass der lange Weg über die erste Reihe versperrt ist. Und f3-f4? würde f3 versperren; dieses Feld ist aber für die Rückkehr des Lf1 erforderlich. Und gar f2-f4? würde den sK im Süden gefangen halten, ihm den Heimweg versperren.
Damit ist klar, dass Schwarz mit der Rücknahme beginnen muss.
18
Niels Høeg
Retrograde Analysis 1915
(16+10)
Die Bedeutung des Buches
Retrograde Analysis war das erste Buch, das sich systematisch mit Retro-Aufgaben beschäftigte; auf das nächste bedeutende Werk hierzu (Luigi Cerianis 32 Personaggi e 1 Autore) musste die Schachwelt genau 40 Jahre warten. Diese beiden Bücher bilden zusammen mit Wolfgang Dittmanns Der Blick zurück aus dem Jahre 2006 auch heute noch den Kanon der Retroanalyse.
Wesentlich ist aus meiner Sicht jedoch besonders, dass Retrograde Analysis einerseits systematisch darstellt und zusammenfasst, was bis zu dieser Zeit auf den Gebieten e. p.-Schlag und Ausschluss der Rochade geschaffen wurde. Für diese Themen zumindest als einziger Inhalt in Retroproblemen bildet das Buch quasi einen Abschluss, auch wenn natürlich auch später noch gelegentlich interessante Aufgaben zu diesen Themen entstanden.
Andererseits zeigt das Buch gerade mit den Aufgaben aus dem Abschnitt "Analysis as the Sole Aim" - das, was wir heute als klassische Retroanalyse bezeichnen - den Komponisten Neuland auf, reißt es Inhalte und Ideen an, die (nach der kriegsbedingten Unterbrechung) in den nachfolgenden Jahrzehnten die Entwicklung der Retroanalyse vorantrieben. Ohne Retrograde Analysis sind aus meiner Sicht die großartigen Aufgaben eines Julio Sunyer, eines Valerian Onitiu, eines Harold Holgate Cross, eines Henry Anthony Adamson und auch von Luigi Ceriani, um nur einige zu nennen, kaum denkbar.
Damit bildet für mich dieses Buch quasi den Abschluss der ersten Periode in der Geschichte der Retroanalyse und den Beginn der nächsten, die man sicher als die "klassische" oder auch die "goldene" Periode der Retroanalyse bezeichnen kann. Dawson selbst und nach ihm, sich auf ihn beziehend, Dittmann nennen etwa 1908 - 50 Jahre Retroanalyse - als diesen Einschnitt, der aber mehr durch die Jahreszahl als wirklich inhaltlich begründet ist.
Und auch heute noch, 100 Jahre nach seiner Veröffentlichung, bietet Retrograde Analysis nicht nur aus problemschach-geschichtlichen Gründen noch immer spannende und gelegentlich überraschende Lektüre.
Fußnoten
5) Als Ideen-Vorläufer sei auf P0002092 (aus dem Jahr 1844!) und P0002093 in der PDB http://pdb.dieschwalbe.de verwiesen.
8) Auch hier war Sam Loyd Pionier: Er veröffentlichte bereits 1859 eine Aufgabe unter dem Motto A Lesson in Castling mit der Frage "Matt in zwei oder drei Zügen?" (siehe PDB P0001946), in der bei Berücksichtigung partieller Retroanalyse ein Matt in zwei, ansonsten erst in drei Zügen möglich ist. Jedoch gibt es mehrere dreizügige Mattfolgen, so dass die Aufgabe als nebenlösig angesehen werden muss.
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