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Heft 276, Dezember 2015

 


Artikel Seite
Aktuelle Meldungen 297
Jahreshauptversammlung der Schwalbe in Aalen am 19. September 2015 300
Entscheid im Informalturnier 2014, Abteilung Zweizüger 303
Thomas Brand: Zwei Funde 309
Armin Geister: Das Berlin-Thema auch im Serienzughilfsmatt? 310
Thomas Brand: Hundert Jahre Retrograde Analysis 311
Eric Huber, Vlaicu Crisan, Andreas Thoma: Aufbruch zu neuen Retro-Universen 318
Urdrucke 320
Lösungen der Urdrucke aus Heft 273, Juni 2015 331
Bemerkungen und Berichtigungen 350
Jürgen Kratz: Zum Teufel mit den Titeln! 350
Michael Lipton: Dreizüger-Revue (15): Two miniatures 351
Hans Peter Rehm: Dreizüger-Revue (16): Keine Römer 351

 

Hundert Jahre Retrograde Analysis

von Thomas Brand (Bornheim) 1

Vor hundert Jahren, im Dezember 1915, erschien in der White'schen Christmas-Serie der Band Retrograde Analysis von Thomas Rayner Dawson und Wolfgang August Eduard Hundsdorfer.2 Bemerkenswert ist nicht so sehr, dass sich zwei Autoren zusammentaten, um dieses Werk zu verfassen, sondern dass dies zu dieser Zeit überhaupt so möglich war: Dawson (* 28. November 1889 in Leeds, † 16. Dezember 1951 in London) war Brite, Hundsdorfer (* 27. November 1879 in München, † 16. Januar 1951 in Freising) war Deutscher - und zwischen Großbritannien und dem deutschen Reich herrschte seit dem 4. August 1914 Krieg.

Dieses Buch ist nicht das erste, das sich mit "Retro-Aufgaben" beschäftigte: Das dürfte The Twentieth Century Retractor, Chess Fantasies, and Letter Problems von Edith Elina Helen Baird ("Mrs. William James Baird") gewesen sein, das im Jahre 1907 erschien und überwiegend Hilfsretraktoren behandelte.3

Die Autoren

Beim Erscheinen ihres Buches waren beide Autoren noch recht jung - Dawson gerade 26 Jahre alt, Hundsdorfer fast auf den Tag zehn Jahre älter, dennoch waren sie bereits als kreative Aufgabenverfasser meist außerhalb des damaligen "Mainstreams", der orthodoxen Mattaufgaben, hervorgetreten.

1
Thomas R. Dawson

Cheltenham Examiner
3. VII. 1913

wKa6, wBb2e2a3g3b4a5, wDUh1, sKa4, sBb3b5h5c6d6h7, sDUb1h3h6e8h8

#2(8+12)
= Grashüpfer

Dawson hatte sich schon zu der Zeit als ideenreicher Schöpfer von Märchenfiguren und -bedingungen hervorgetan; zwei seiner Erfindungen seien hier vorgestellt: Bei 1 handelt es sich um die erste Aufgabe mit Grashüpfern, die bekanntlich auf Damenlinien über einen beliebigen Stein hüpfen und auf dem unmittelbar dahinter liegenden Feld landen; ist dies von einem gegnerischen Stein besetzt, wird dieser geschlagen. 1.Kb7 Zugzwang Gf3+/h4/c5/d5/Gh4/Ge1/Ga1/Gd8 2.Ge4/G:h4/Ga8/G:c6/G:h4/Gd1/G:a1/Ga1#. Deutlich mehr als nur ein Schema zur Veranschaulichung der Idee.

2
Thomas R. Dawson

Reading Observer

28. XII. 1912

wKd2, wTb4, wLd7, wSe2, wBg2e5, sKd5, nSh1, nBg3d4

#2 (6+1+3)

In einem Aufsatz im Reading Observer hatte Dawson mit vier Aufgaben, darunter der 2, neutrale Steine eingeführt: Jede Partei kann einen neutralen Stein ziehen. Jede Partei kann (auch mit einem neutralen Stein) einen neutralen Stein schlagen. Ist Weiß am Zug, zieht ein neutraler Bauer in dieselbe Richtung wie ein weißer Bauer; ist Schwarz am Zug, zieht ein neutraler Bauer in dieselbe Richtung wie ein schwarzer Bauer. Neutrale Bauern wandeln sich nach Wahl der ziehenden Partei in neutrale Figuren um. 1.Ta4 Zugzwang Ke4/nS~/nBd3 2.Sc3/Sf4/Ta5#. Neutrale Steine fristeten vierzig Jahre lang ein Mauerblümchen-Dasein, sie wurden erst kurz nach Dawsons Tod in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhundert wirklich populär.

3
Wolfgang Hundsdorfer

Sammler 1906

wKb6, wDf6, wTb5f7, wLg2, wSd7, wBb2f2, sKa8, sTd5, sLa4h4, sBb3g3g4

s#3 (8+7)

Hundsdorfer war zum Zeitpunkt des Erscheinens des Buches besonders als Selbstmatt-Autor bekannt; hier seien zwei Aufgaben von ihm präsentiert. 3 zeigt, wenn man das Drohspiel einrechnet, drei Varianten, von denen eine Verteidigung durch einen ep-Schlag erfolgt. 1.f4! [2.Dh8+ Ld8+ 3.Ka6 Zugzwang L:b5#] 1.- L:f6 2.Tf8+ Ld8+ 3.Ka6 Zugzwang L:b5#, 1.- g:f3 ep 2.Ta5+ T:a5 3.Dd8+ L:d8#.

4
Wolfgang Hundsdorfer

Münchner Neueste
Nachrichten 1906

wKa1, wDg8, wTh4, wLb1e5, wSd2h3, wBa2g2, sKh1, sLa7, sBb6

s#4 (9+3)

Auch 4 arbeitet mit Zugzwang: 1.Da8! Zugzwang führt nach 1.- Lb8 2.g3+ Kh2 3.g4+ L:e5# und 1.- b5 2.Sf4+ Kg1 3.Ld4+ L:d4# zu Echomatts. Vereinheitlicht werden die Abspiele durch die notwendige Absperrung des wTh4.

Das Buch

Alle folgenden Aufgaben sind der Retrograde Analysis entnommen; die Erläuterung der Lösungen habe ich teilweise deutlich ausführlicher vorgenommen, als sie im Buch angegeben sind, um auch "Retro-Laien" deren Verständnis zu erleichtern.

Das Buch stellt 100 Aufgaben vor, zu den meisten werden zum Vergleich oder zur Vertiefung zwei weitere Stücke zitiert. Zunächst werden anhand von 15 Aufgaben "illegale Positionen" vorgestellt, die so nicht aus der Partieanfangsstellung erspielt werden konnten. Dawson und Hundsdorfer führen hierfür den Begriff "illegal" an Stelle des damals meist verwandten Begriffs "unmöglich" ein, denn sie verweisen auf eine Argumentation à la Loyd: Die Stellung sei selbstverständlich "möglich", da der Autor ja die Steine selbst so aufs Brett gestellt habe. Diese sophistische Argumentation ist bei dem Begriff "illegal" nicht mehr möglich.

5
Leonard. N. de Jong

Op de Hoogte 1912

wKf6, wDh1, wTd8, wLg8, wBe6e7g5h4h7, sKh8, sTg7

#2 (9+2)

5 stammt aus dem Artikel Onmogelijke Standen des Verfassers: 1.Da1 Zugzwang mit viermaligem Abfeuern der Dame-König-Batterie, aber Schwarz hat offensichtlich keinen letzten Zug.

6
Thomas B. Rowland

Leeds Mercury 1896

wKa5, wSb3, wLa3g8, wBa2a6b6c2c3c6d2h2, sKc4, sTd5, sBb5h7

#2 (12+4)

6 hingegen verlangt nicht nur das Erkennen der Illegalität, sondern auch deren Korrektur. Schwarz hat offensichtlich keinen letzten Zug (Lg8 kann wegen der acht weißen Bauern nicht durch Umwandlung entstanden sein), außerdem haben die weißen Bauern 13 mal geschlagen, hingegen fehlen nur 12 schwarze Steine. Also, so die Argumentation, hat Weiß gerade versucht, nach schwarzem b7-b5 diesen Bauern mittels c5:b6 e. p. zu schlagen. Dies aber ist wegen der Fesselung auf der fünften Reihe illegal. Also muss Weiß den e. p.-Versuch zurücknehmen und gemäß den damaligen Regeln einen Strafzug mit dem König machen. Zum Glück führt dann 1.Kb6 zum geforderten Matt in zwei Zügen.

Von solchen "Faschingsproblemen" abgesehen beschäftigte sich die Retroanalyse damals fast ausschließlich mit zwei konkreten Themen: dem En-Passant-Schlag im Schlüssel sowie dem Nachweis der Illegalität von Rochaden, jeweils im Kontext orthodoxer Vorwärtsforderungen. Diese beiden Themen werden in den größten Abschnitten des Buches behandelt; sie geben damit einen quasi vollständigen Überblick über die Darstellungsmöglichkeiten dieser beiden Themen bis 1915, teilweise in Form von Nachdrucken, teilweise aber auch in Originalaufgaben, überwiegend von Dawson und Hundsdorfer selbst.

En-Passant-Schlag im Schlüssel

7
Max Lange (Anonymus)

885 Schachzeitung II/1858

wKb5, wTe4, wLa3d7, wSa8g4, wBb6d5, sKd6, sBb7c5e7f7

Weiss zieht und (8+5)
soll auf die kürzeste
Weise matt setzen. Matt
in wie viel Zügen?

Im Februar 1858 erschien auf dem Titelblatt der Schachzeitung ohne Angabe des Autors (der findet sich dann im Inhaltsverzeichnis) die Aufgabe 74, die für die damalige Zeit etwas völlig Neues, etwas Ungeheuerliches zeigt: Weiß kann nachweisen, dass der letzte schwarze Zug ein Bauern-Doppelschritt war, so dass Weiß diesen en passant schlagen darf. Dies führt hier zu einem Matt in drei Zügen: 1.d5:c6 ep+ Kd5 2.Sf2. Der schwarze König nämlich hat keinen letzten Zug: Er hätte bei allen vorher möglichen Feldern c7, e6 und e5 in einem illegalen Doppelschach gestanden. Der schwarze Bauer c5 kann in seinem letzten Zug nicht geschlagen haben (b6 und d6 sind geblockt), und auch c6-c5 scheidet als letzter Zug aus, da er den weißen König einem illegalen Schach ausgesetzt hätte. Somit bleibt als letzter Zug nur 0.- c7-c5, und der En-Passant-Schlag ist zulässig.

Dies dürfte die erste (korrekte) Retroaufgabe sein5 - und damit ist Retroanalyse zwei Jahre älter als das Hilfsmatt: Die erste korrekte Darstellung eines Hilfsmatts (von Loyd) erschien im November 1860, siehe P0516986.

In der Folgezeit suchten die Aufgabenverfasser, die sich mit dieser Thematik beschäftigt haben, nach immer subtileren Begründungen für e. p.-Schlüssel. So weist Harrie Grondijs auf einen Briefwechsel zwischen William Henry Russ und Eugene Beauharnais Cook bereits aus dem Jahre 1859 hin, in dem Russ einige eigene Aufgabenentwürfe mit ep-Schlag vorstellt, der dadurch möglich wird, dass Zusatzinformationen zur Stellung gegeben werden, etwa: Die letzten drei weißen Züge waren Schachgebote. Möglicherweise wurde Cook's Aufgabe Nr. 54 in Retrograde Analysis (PDB P0002094) durch den Briefwechsel der beiden inspiriert. (Persönliche Kommunikation Grondijs / Brand, Oktober 2015)

8
Sam Loyd

New York State Chess
Association 16. VIII. 1894

wKh7, wDh6, wTg6h8, wSa1f8, wBa7b3b4c2d2e2g5h2,
   sKg4, sTg8, sLb8, sBb6c7d7e6f5f4g7

#4 (14+10)

Ein Meilenstein der Retro-Geschichte ist (trotz des Matt-Duals) sicherlich Loyds berühmte 8 mit der Lösung 1.g:f6 ep+ Kf5 2.Tg5+ Ke4 3.Dg6+ Kd4 4.c3/Dd3#. Wieso war hier 0.- f7-f5 der letzte schwarze Zug? Dafür müssen wir uns die Schlagbilanz der Stellung anschauen: sBf4 kommt von h7 (nicht sBf5, da jener Bauer beide fehlenden weißen Läufer geschlagen haben muss, darunter auch den schwarzfeldrigen Lc1). Wegen des weißen Doppelbauern auf der b-Linie muss wBa7 von f2 kommen, und damit sind alle fehlenden schwarzen Steine erklärt. Der sBa7 kann allerdings nicht zu Hause geschlagen worden sein, da sonst sLb8 nicht auf sein Feld hätte ziehen können. Also muss dieser Bauer schlagfrei auf a1 umgewandelt haben. Also kann Weiß noch nicht sofort z. B. a2:Xb3 zurücknehmen - a6-a7 scheidet ja aus, weil dieser Bauer von f2 kommt.

Was war nun Schwarz' letzter Zug? 0.- b7-b6 scheidet aus, da er sLc8 absperren würde, der jedoch (auf b3) vom weißen a-Bauern geschlagen werden musste. Offensichtlich können sKg4 und sBf4 keinen letzten schwarzen Zug zurücknehmen, aber warum geht nicht 0.- f6-f5 - kein illegales Königsschach?! Aber in diesem Falle hat Weiß keinen letzten Zug, er ist also retropatt! Also muss 0.- f7-f5 der letzte schwarze Zug gewesen sein, und der En-Passant-Schlag ist zulässig. (0.- e7-e6 würde den sLf8 aussperren, der aber als Schlagobjekt für die weißen Bauern benötigt wird.)

9
Wolfgang Hundsdorfer

Norwich Mercury 1909

wKh5, wDh8, wTa4b1, wLd6h1, wSf7, wBa6a7b4b5b6e3f5h6,
   sKa8, sTg2, sLe8, sBa5d7g5

(15+6)

Wolfgang Hundsdorfer war, wie wir gesehen haben, Selbstmatt-Experte, und was lag da näher, als subtile Retro-Überlegungen um den e. p.-Schlag mit der Selbstmatt-Vorwärtsforderung zu verbinden? In 9 haben die weißen Bauern im Westen neun Mal geschlagen - dann bleibt noch wBa6 (oder a7) und sBa5 stehen. Weiß kann nicht um den sBa5 herumgeschlagen haben, denn dies würde elf Schläge erfordern, also ist wBa6(7) der ursprüngliche Ba2. also wurde der ursprüngliche sBa7 von einem weißen Stein geschlagen, und damit stammt der sBa5 ursprünglich von b7 und hat den fehlenden wS geschlagen. Also kann der letzte schwarze Zug nicht 0.- T:Sg2 gewesen sein, damit scheidet auch 0.- f6:Sg5 als möglicher letzter schwarzer Zug aus. Damit war also 0.- g7-g5 der letzte schwarze Zug, und es ergibt sich folgende Lösung: 1.f:g6 e. p. a:b4 2.g7 b3 3.Th4 b2 4.g8=S Zugzwang L:f7#.

10
Wolfgang Hundsdorfer

Deutsches Wochenschach
1909

1. Preis

wKb3, wDa4, wTa3a5, wLa6, wBa2f2e3f3e4b5h5g6, sKd3, sDf5, sTc2, sLa7, sBd2e2b4c5h6b7e7h7

#3 (13+12)

Eine sehr hübsche Motivation für den Bauern-Doppelschritt als letzten schwarzen Zug zeigt Hundsdorfer in seiner 10: Weiß kommt rasch in Zugnot, da er nur Züge des wBg6 und Bh5 zurücknehmen kann: wBe3e4f3 stammen von c2 bis e2, so dass alle fehlenden schwarzen Steine erklärt sind. Damit scheidet eine Rücknahme etwa von Kb2:Xb3 aus. Die schwarzen Bauernschläge a:b, f:e und g7:Xh6 erklären alle fehlenden weißen Steine. Schwarz kann aber erst dann g7:Xh6 zurücknehmen, wenn sowohl Th8 als auch Lf8 wieder im Nordosten (hier werden Brettzonen, wohl zurückgehend auf Ceriani, häufig mit Himmelsrichtungen bezeichnet) angekommen sind. Daher muss sich Schwarz beeilen, diese Steine nach Hause zu bringen, um Weiß vor dem Retropatt zu bewahren: R: 1.c7-c5 g5-g6 2.Tc6-c2 g4-g5 3.Tg6-c6 g3-g4 4.Tg8-g6 g2-g3 5.Ld4-a7 h4-h5 6.Lg7-d4 h3-h4 7.Lf8-g7 h2-h3 8.g7:Xh6 usw. Damit darf Weiß in der Lösung für das Vorwärtsspiel den ep-Schlag ausführen: 1.b5:c6 ep+ b:a6/b5 2.K:b4+ Tc3 3.T:c3#; 1.- Db5 2.D:b5+ Tc4 3.Dc4:# (1.- Tc4 2.L:c4#).

11
Thomas R. Dawson

Falkirk Herald
17. VI. 1914

wKd5, wSb6f6, wBb5c4d3d2d6d7e4f5,
   sKd8, sBa7c5d4e5g7

#2 (11+6)

In 11 ist wie schon in 7 schnell klar, dass ein Bauern-Doppelschritt der letzte schwarze Zug war - doch welcher? Die weißen Bauern haben zehn Schläge ausgeführt, also alle fehlenden schwarzen Steine geschlagen, darunter auch den sLf8. Daher kann e7-e5 nicht der letzte schwarze Zug gewesen sein, da er sLf8 eingesperrt hätte. Damit war 0.- c7-c5 der letzte schwarze Zug; die Lösung lautet also 1.b:c6 e. p. und nicht 1.f:e6 e. p.?6

Illegalität von Rochaden

12
Sam Loyd

The Musical World 1859

wKe6, wDa6, sKe8, sTa8, sBa7c7

(2+4)

Das zweite veröffentlichte korrekte Retro-Problem (eher ein Schema) war 127: 1.Da1 (1.Da3? c5!) droht unparierbar 2.Dh8#, denn 1.- 0-0-0? ist illegal, da der sKe8 oder sTa8 im letzten Zug gezogen haben muss.

Auch bei diesem Thema haben sich die Verfasser in der Folgezeit damit beschäftigt, möglichst versteckte Argumente für die Illegalität schwarzer oder auch weißer Rochaden zu finden.

13
Francis Charles Collins

Sheffield Independent 1886

3. Preis

wKe1, wDe5, wLa3a4, wSe6, wBb2c3d5f2f4g3h6,
   sKe8, sTa8h8, sLd1g5, sBa6b7c2c7d7e7h7

#2 (12+12)

In 13 ist 1.S:g5 der Schlüssel: Es droht D:e7# und D:h8#; auf 1.- 0-0 folgt 2.Dg7#. Wieso aber pariert nicht 1.- 0-0-0? Dazu schauen wir uns die Schlagbilanz bei Schwarz und Weiß an: sLd1 ist ein Umwandlungsstein, da der schwarze weißfeldrige Originalläufer auf c8 geschlagen werden musste. sBc2 kommt mit drei Schlägen von f7, so dass für sBg7 noch ein Schlag übrig bleibt, um auf h1 (weißes Feld!) in den Läufer umzuwandeln. Damit sind alle schwarzen Schläge erklärt. Zwei weiße Schläge sieht man sofort: e:f sowie den Schlag des sLc8 auf seinem Ursprungsfeld. Bei Weiß fehlt u. a. der ursprüngliche Ba2: Der könnte durch die schwarzen Bauern nicht direkt geschlagen werden. Also musste er sich umwandeln. Dafür bleiben ihm zwei Schlagfälle noch frei: a:b und b:a7 mit der Folge, dass er sich auf a8 umwandeln musste. Daher hat sTa8 bereits gezogen, daher ist die schwarze 0-0-0 nicht mehr zulässig.

14
Thomas R. Dawson

Natal Mercury 1913

wKa2, wDf5, wTa4b3, wLb1, wSd5g1, wBb2b4c2c3e3f3g2h4,
   sKe8, sDa7, sTh8, sLa3c8, sSa1, sBa5b6b7d7e7f7g3h5

#2 (15+14)

Der Schlüsselzug in 14 ist 1.De5 mit der Drohung 2.D:e7# und D:h8# - wiederum stellt sich die Frage, warum 1.- 0-0 nicht pariert. Der fehlende schwarzfeldrige weiße Läufer wurde auf b6 geschlagen. Er muss allerdings auf dem Feld sein und nach Hause zurückgezogen haben, damit die Stellung im Südwesten des Bretts aufgelöst werden kann durch d2:S/Tc3; der andere Entschlag war dann noch a2:T/Sb3.
Stellen wir also die sD gedanklich wieder nach d8; erst dann kann c7:Lb6 zurückgenommen werden, weil sonst die sD ausgesperrt bliebe, wenn wir voraussetzen, dass der sK noch nicht gezogen hat. Nun bringt Weiß so schnell wie möglich Lb6 nach Hause. Während dieser Zeit kann Schwarz nur Züge seiner g" und h-Bauern zurücknehmen; sBa5 muss noch stehen bleiben, um sTa8 wieder nach Hause lassen zu können.

Spielen wir nun zurück: R 1.Lc5-b6 g4-g3 2.Ld6-c5 g5-g4 3.Lg3-d6 g6-g5 4.Le1-g3 h6-h5 (g7-g6 kann erst zurückgenommen werden, wenn sLf8 wieder zu Hause ist!) 5.Ld2-e1 h7-h6 6.Lc1-d2, und bevor Weiß nun endlich d2:c3 zurücknehmen kann, muss Schwarz noch einen Tempozug durchführen. Und dafür stehen ihm nur sKe8 oder sTh8 zur Verfügung, Schwarz darf also in der Diagrammstellung nicht mehr rochieren.

15
Thomas R. Dawson

Magyar Sakkvilag 1914

wKe1, wDh8, wTd8h1, wLe8h6, wBa2b2c3d6g6h5,
sKf8, sDh7, sTb8g8, sLa7c2, sSa8g7, sBa6b6c7d5d7g4g5h4

#2 (12+16)

In 15 gilt es zu zeigen, dass nur 1.Tf1+ Lf5 2.T:f5# löst, nicht aber 1.0-0? Betrachten wir zunächst die Schlagfälle: Bei Schwarz fehlen keine Steine, bei Weiß die beiden Springer sowie Be2 und Bf2. Da Weiß nicht geschlagen haben kann, konstatieren wir folgende schwarze Schläge: e:d5 und f:g. Ferner muss Schwarz die beiden Bg6 und Bh5 nach Hause lassen; dies erfordert noch die Schläge h6:g5 sowie g5:h4; sBh4 kommt also von g7.
Schwarz kann im Moment noch keinen dieser Schläge zurücknehmen, da ja auch die beiden Be2 und Bf2 geschlagen wurden. Damit dies funktionieren kann, mussten beide Bauern (schlagfrei) umwandeln, daher kann Schwarz z. B. e6:d5 erst zurücknehmen, wenn der entwandelte e-Bauer schon mindestens bis e5 zurückgenommen hat.
Überlegen wir uns zusätzlich, wie der Käfig im Nordosten des Diagramms aufgelöst werden kann: Hierzu muss sSg7 befreit werden, damit er auf d8 den Le8 freispielen kann, indem er die Batterie wTd(c)8/Le8/Kf8 aufhebt. Die Befreiung des Springers kann aber nur ein einziger Stein auf dem Brett durchführen, nämlich wTh1 - und damit ist die weiße Rochade unzulässig!

"Neue" Retro-Typen

16
Thomas R. Dawson

100 Retrograde Analysis
1915

wKe1, wDb3, wTa1h1, wLf6h7, wSa4b6, wBc2c3c4c5f2f5g3g4,
   sKe4, sTd8, sLa2, sBb7c6d5e5f3g7

(16+9)

Die Aufgaben 98-100 beschäftigen sich mit "Partial Analysis", bei der Stellungen untersucht werden, in denen verschiedene Rochaden oder En-Passant-Schläge zulässig sein können; hiervon abhängig ergibt sich unterschiedliches Vorwärtsspiel. Die erste (korrekte) Aufgabe dieses Typs wurde 1882 von August Oeffner in Brentano's Chess Monthly publiziert (PDB P0002181), sie wird in Retrograde Analysis als 100A zitiert8. Wir wollen uns allerdings hier die berühmte Aufgabe 100 aus dem Buch anschauen. In 16 schlugen die weißen Bauern sechs der sieben fehlenden schwarzen Steine, darunter konnten nicht der schwarze a- und h-Bauer sein. Einer von den beiden muss sich also schlagfrei (Weiß hat alle Mann an Bord) umgewandelt haben, damit scheidet jeweils eine der weißen Rochaden als Lösung aus, da der Turm Platz gemacht haben muss. Es löst also, wenn sBa7 umgewandelt hat, 1.0-0 (nicht 1.0-0-0?), wenn sBh7 umgewandelt hat, 1.0-0-0 (nicht 1.0-0?). Allerdings kann Schwarz in seinem letzten Zug auch 0.- d7-d5 oder 0.- e7-e5 gezogen haben. Dann scheidet sLc8 bzw. sLf8 als Schlagopfer für die weißen Bauern aus, also müssen sich in diesen Fällen beide sBa7 und sBh7 schlagfrei umgewandelt haben, also sind in diesen Fällen beide weißen Rochaden unzulässig. Aber dann war ja ein Doppelschritt der letzte Zug, und abhängig davon, welcher Doppelschritt zuletzt geschah, löst bei 0.- d7-d5 1.c5:d6 ep, bei 0.- e7-e5 1.f5:e6 ep. Zwei Rochaden und zwei ep-Schläge schließen sich wechselseitig aus.

Mit nur sieben Aufgaben ist auch der Abschnitt "Analysis as the Sole Aim" (also "Analyse als einziger Zweck" oder sehr frei übersetzt "Retroanalyse ohne Vorwärtsforderung") zahlenmäßig recht schwach besetzt, aber nach meinem Eindruck (siehe weiter unten) von besonderer Bedeutung. Hier geht es also nicht um Schlussfolgerungen für den Schlüsselzug im Vorwärtsspiel, sondern ausschließlich um "historische Betrachtungen" der Diagrammstellung, um die Auflösung der Stellung zurück zur Partieanfangsstellung. Hierbei sind üblicherweise nur die Rücknahme-Züge interessant, die die Stellung so freispielen, dass die weitere Rücknahme klar ist, bis also ein meist vorhandener "Retroknoten" aufgelöst werden kann.

17
Thomas R. Dawson

Pittsburgh Leader 1913

wKf1, wSh8, wBa7b2c2d3e3f6g2g3,
   sKh1, sDd1, sTd2e2, sLb1, sSc1e1, sBc6c7d7e7f2f7g6h7

(10+15)

In 17 muss offensichtlich der Knoten im Süden des Brettes aufgelöst werden, will man zurück zur Partieanfangsstellung gelangen. Hierzu sind noch die Schlagfälle wichtig: Bei Schwarz fehlt nur sLf8, der auf g3 geschlagen wurde. Die sechs fehlenden weißen Steine wurden durch b7:Lc6 geschlagen sowie fünf Mal durch sBf2, der von a7 gekommen ist. Versuchen wir die Stellungsauflösung, indem Schwarz mit der Rücknahme beginnt, beispielsweise R: 1.La2-b1 a6-a7 2.Sb3-c1 a5-a6 3.Da1-d1 a4-a5 4.Td1-d2 f5-f6 5.Td2-e2 f4-f5 6.Tb1-d1 Ke2-f1 7.Td1-d2+ Kf1-e2. Nun kann der weiße König erst einmal pendeln, bis Schwarz einen seiner Türme nach g8 sowie den Läufer nach c8 gebracht hat. Nun kann Schwarz b7:Lc6 zurücknehmen, der dann nach Hause geht, woraufhin Weiß e2-e3 zurücknehmen kann, und nun löst sich der Knoten auf, indem sBf2 entschlagend nach Nordwesten entweicht und sK via f2 und e3 den Heimweg antreten kann.

Warum kann die Stellung nicht aufgelöst werden, wenn Weiß mit den Rücknahmen beginnt? Dann müsste er offensichtlich einen weiteren Bauernzug zurücknehmen, bevor sein König pendeln kann. Aber a3-a4? würde wTa1 von seinem Ursprungsfeld ausschließen: Er kann ja erst entschlagen werden, wenn wLf1 zu Hause und nach e2-e3 eingeklemmt ist, so dass der lange Weg über die erste Reihe versperrt ist. Und f3-f4? würde f3 versperren; dieses Feld ist aber für die Rückkehr des Lf1 erforderlich. Und gar f2-f4? würde den sK im Süden gefangen halten, ihm den Heimweg versperren.

Damit ist klar, dass Schwarz mit der Rücknahme beginnen muss.

18
Niels Høeg

Retrograde Analysis 1915

wKc4, wDh2, wTd1d7, wLa3h3, wSb8g1, wBa6b7c6d2d4e6f6g2,
   sKc7, sDb2, sTb1h1, sLa1a8, sBa7b6d6h7

(16+10)

18 bildet sicherlich einen der problemschachlichen Höhepunkte des Buches: Hier ist einfach nach den letzten Zügen gefragt, und die sind beeindruckend. Weiß schlug sechs Mal mit Bauern: zwei Schläge um den sBb6 herum, dann e:d sowie h:g:f:e. Damit wurden alle fehlenden schwarzen Steine von Bauern geschlagen, und der letzte Zug muss R 1.Td8-d7+ gewesen sein. Nun hat der schwarze König keinen letzten Zug, und sDb2 und sTb1 sind höchst elegant Retro-bewegungsunfähig, also muss Schwarz 1.- d7-d6 zurücknehmen. Nach 2.e5-e6+? wäre Schwarz retropatt, so dass Weiß einen ep-Schlag zurücknehmen muss, um das Schachgebot durch die Dame aufzuheben: 2.f5:e6 ep+ e7-e5 3.f4-f5+. Nun kann Schwarz nur 3.- Kd6-c7 zurücknehmen; das Schachgebot durch La3 lässt sich nur durch 4.b5:c6 ep+ c7-c5 5.b4-b5+ aufheben - und wieder muss Schwarz in ein Schach, dieses Mal durch Lh3, laufen, das wiederum nur durch einen ep-Schlag aufgehoben werden kann: 5.- Ke6-d6 6.g5:f6 ep+ f7-f5 7.g4-g5+, und nun geht es einfach weiter zurück. Das ist der noch heute gültige, also 100 Jahre alte Rekord an e. p.-Schlägen in orthodoxen Auflöse-Aufgaben und ein Problem, das mich immer wieder begeistert.

Die Bedeutung des Buches

Retrograde Analysis war das erste Buch, das sich systematisch mit Retro-Aufgaben beschäftigte; auf das nächste bedeutende Werk hierzu (Luigi Cerianis 32 Personaggi e 1 Autore) musste die Schachwelt genau 40 Jahre warten. Diese beiden Bücher bilden zusammen mit Wolfgang Dittmanns Der Blick zurück aus dem Jahre 2006 auch heute noch den Kanon der Retroanalyse.

Wesentlich ist aus meiner Sicht jedoch besonders, dass Retrograde Analysis einerseits systematisch darstellt und zusammenfasst, was bis zu dieser Zeit auf den Gebieten e. p.-Schlag und Ausschluss der Rochade geschaffen wurde. Für diese Themen zumindest als einziger Inhalt in Retroproblemen bildet das Buch quasi einen Abschluss, auch wenn natürlich auch später noch gelegentlich interessante Aufgaben zu diesen Themen entstanden.

Andererseits zeigt das Buch gerade mit den Aufgaben aus dem Abschnitt "Analysis as the Sole Aim" - das, was wir heute als klassische Retroanalyse bezeichnen - den Komponisten Neuland auf, reißt es Inhalte und Ideen an, die (nach der kriegsbedingten Unterbrechung) in den nachfolgenden Jahrzehnten die Entwicklung der Retroanalyse vorantrieben. Ohne Retrograde Analysis sind aus meiner Sicht die großartigen Aufgaben eines Julio Sunyer, eines Valerian Onitiu, eines Harold Holgate Cross, eines Henry Anthony Adamson und auch von Luigi Ceriani, um nur einige zu nennen, kaum denkbar.

Damit bildet für mich dieses Buch quasi den Abschluss der ersten Periode in der Geschichte der Retroanalyse und den Beginn der nächsten, die man sicher als die "klassische" oder auch die "goldene" Periode der Retroanalyse bezeichnen kann. Dawson selbst und nach ihm, sich auf ihn beziehend, Dittmann nennen etwa 1908 - 50 Jahre Retroanalyse - als diesen Einschnitt, der aber mehr durch die Jahreszahl als wirklich inhaltlich begründet ist.

Und auch heute noch, 100 Jahre nach seiner Veröffentlichung, bietet Retrograde Analysis nicht nur aus problemschach-geschichtlichen Gründen noch immer spannende und gelegentlich überraschende Lektüre.

Fußnoten

1) Erweiterte Fassung des Vortrags vom 18. September 2015 beim Schwalbetreffen in Aalen. Mein herzlicher Dank geht an Günter Büsing, Norbert Geissler, Bernd Gräfrath, Hans Gruber und besonders Harrie Grondijs für die Klärung verschiedener historischer Datailfragen.

2) Die genauen bibliographischen Angaben lauten: Retrograde Analysis. A study by T. R. Dawson and W. Hundsdorfer. Edited by Alain C. White. Leeds: Whitehead and Miller, Printers, 13 Elmwood Lane 1915.

3) Siehe hierzu den Aufsatz von Adrian Storisteanu: Tea, bisquits, and help retractors in feenschach 212, März-April 2015, S. 78-86.

4) Die Aufgabe ist hier mit der Original-Forderung zitiert; heute schriebe man sicherlich einfach "#3' unter das Diagramm.

5) Als Ideen-Vorläufer sei auf P0002092 (aus dem Jahr 1844!) und P0002093 in der PDB http://pdb.dieschwalbe.de verwiesen.

6) Der Autor dieser Zeilen kann sich gut erinnern, wie stolz er war, wohl 1981 diese Aufgabe als blutiger Anfänger im Problemteil der Heißener Schachpost, der vom unvergessenen Hans Christoph Krumm so großartig geleitet wurde, gelöst zu haben: Das war mein persönliches erstes Retro.

7) Die Quellenangabe ist sowohl in Retrograde Analysis als auch Alain C. White's Sam Loyd und seine Schachaufgaben, autorisierte Übersetzung von Wilhelm Massmann, Leipzig 1926, mit einem Fragezeichen versehen. Dies ist um so verwunderlicher, da Loyd die Schachrubrik in The Musical World selbst leitete.

8) Auch hier war Sam Loyd Pionier: Er veröffentlichte bereits 1859 eine Aufgabe unter dem Motto A Lesson in Castling mit der Frage "Matt in zwei oder drei Zügen?" (siehe PDB P0001946), in der bei Berücksichtigung partieller Retroanalyse ein Matt in zwei, ansonsten erst in drei Zügen möglich ist. Jedoch gibt es mehrere dreizügige Mattfolgen, so dass die Aufgabe als nebenlösig angesehen werden muss.

 


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