Im Märchenschach wird die Legalitätsforderung gemeinhin
als verfehlt betrachtet; Stichwort: "legal, illegal,
sch{...}egal!" Zwar läßt sich die Legalität in
Märchen-Retros explizit thematisieren, aber ansonsten will
man die Beschränkungen des orthodoxen Schachs im
Märchenschach hinter sich lassen. Trotzdem gibt es weiterhin
Nachklänge des Orthodoxen: Wenn die Wahl besteht, wird eine
Übereinstimmung mit traditionellen Vorgaben bevorzugt, und
dafür wird manchmal einige Mühe aufgewandt. Zur
Illustration will ich hier einige Bemerkungen aus dem
schönen Buch Manche mögen{\grqs weiß} von Franz
Pachl, Manfred Rittirsch und Markus Manhart (Potsdam: Udo Degener
Verlag 2016) heranziehen. Bei einem Serienzugmatt mit einem
Ubi-Ubi in der Diagrammstellung berichtet Manfred von einem
"Kampf um Quasilegalität" (Seite 170), und bei einem anderen
Serienzugmatt (mit einem Nachreiterhüpfer, einer Rose und
einem Zebrareiter) gehörte eine "quasilegale Stellung"
(Seite 213) zu den gewünschten (und erreichten!)
Konstruktionszielen. Manchmal wird dieses Ziel angestrebt, ohne
diesbezüglich erfolgreich zu sein. So schreibt Manfred
über ein Hilfsmatt mit der Märchenbedingung Isardam und
einem ganzen Märchenzoo mit Doppelgrashüpfern, Kamel,
Nachreitern und T/L-Jägern (Seite 436): "Um ein Haar
hätte ich die Stellung auch noch legal (d. h., nach den
Regeln der verwendeten Märchenbedingung und unter
Berücksichtigung der Konvention, daß alle
Märchenfiguren durch Umwandlung entstanden sind, aus der
Partieanfangsstellung erspielbar) hinbekommen, was unter der
Isardam-Bedingung - leider! - besonders schwierig ist, weil die
Bauern beider Parteien nur mit Mühe aneinander
vorbeikommen." Trotzdem wird niemand die Veröffentlichung
dieses Problems kritisieren - im Gegenteil: Es erhielt im
betroffenen Turnier sogar den 1. Preis!
Eine andere Konvention, die auch noch im Märchenschach
nachwirkt, ist die bevorzugte Vermeidung von offensichtlichen
Umwandlungsfiguren (nicht im Sinne von Märchenfiguren,
sondern etwa von einem dritten Turm einer Farbe, der allerdings
ganz legal durch Bauernumwandlung entstehen konnte). Manfred
spekuliert bezüglich eines Hilfspatts mit den
Märchenbedingungen Andernachschach und Madrasi, das "nur"
den 3. Preis erhalten hatte: Vielleicht haben den Preisrichter
die drei schwarzen Türme ein wenig gestört? Manfred
stören diese dagegen "überhaupt nicht" (Seite 274).
Hilfsmatts galten früher als Märchenschach, heute
gelten sie allgemein als orthodox. Wie wirken sich die orthodoxen
Konventionen hier aus? Wenn selbst im Märchenschach die
Illegalität der Diagrammstellung und die Anwesenheit von
offensichtlichen Umwandlungsfiguren im Zweifelsfall lieber
vermieden werden, wird das beim orthodoxen Hilfsmatt erst recht
relevant sein. Aber auch hier müssen solche Fragen nicht das
letzte Wort haben: In der Gesamtabwägung fallen sie
vielleicht nur wenig ins Gewicht. Im Folgenden will ich einige
orthodoxe Hilfsmatts vorstellen, die unsere Toleranz austesten.
Auf Reaktionen bin ich gespannt!
A) László Talabér
FEENSCHACH 1954
h#3* (10+16)
Gegen die Lösung von Problem A gibt es
keine formalen Bedenken: 1.- L:c3 2.Ke5 T:c4 3.Df4 L:d4#. Neben
dieser Lösung in 2,5 Zügen gibt es aber auch noch ein
intendiertes Satzspiel in 2,0 Zügen: 1.d:e3 \ep{}+ d4
2.c:d3 \ep{}+ L:c3#. Man könnte zusätzlich
darüber diskutieren, ob bei der Forderung ausdrücklich
auf den Retro-Aspekt hingewiesen werden muß: Der schwarze
En-passant-Schlag ist nur erlaubt, wenn bewiesen werden kann,
daß der letzte Zug von Weiß der Doppelschritt des zu schlagenden
weißen Bauern war. Das gelingt in einem bestimmten Sinne, wobei
allerdings noch ein anderer Retro-Aspekt herangezogen werden
muß: Der letzte Zug von Weiß kann zum Beispiel nicht ein Schlag
g6:h7 gewesen sein, weil noch alle 16 schwarzen Steine auf dem
Brett sind. Aber wenn man schon die Retro-Perspektive einnehmen
muß, dann kann nicht ignoriert werden, daß zur Erreichung der
schwarzen Bauernstruktur nicht genug weiße Schlagobjekte zur
Verfügung standen: Die schwarzen Bauern haben 7 mal
geschlagen, es fehlen aber nur 6 weiße Steine! Das Problem ist
damit zumindest in seinem Wert beeinträchtigt, oder?
B1) Ztlatko Mihajloski
Die Schwalbe 2011
Spezialpreis
h#5 2 Lösungen (2+13)
Problem B1 erhielt vom Preisrichter Eckart
Kummer einen Spezialpreis, obwohl er zu berücksichtigen
hatte, daß Weiß keinen letzten Zug hat: Sowohl dem Komponisten
als auch den Lösern war das zunächst entgangen.
Lösungen: 1.Ke4 Lg2+ 2.Tgf3 Lh3 3.Lg3 Kg2 4.Tf4 Kf1 5.Kf3
Lg2#; 1.Le6 Lf5 2.Tg4 L:g6 3.Lg3 Lf5 4.Tf4 Lh3 5.Lg4 Lg2#.
B2) Ztlatko Mihajloski
Die Schwalbe 2011
Spezialpreis
h#5 2 Lösungen (3+14)
Der Komponist lieferte danach noch eine "legale" Version, die
allerdings unschöne 3 Steine mehr benötigt:
B2.
Lösungen: 1.Ke4 Lg2+ 2.Tgf3 Lh3 3.Lg3 Kg2 4.Tf4 Kf1 5.Kf3
Lg2#; 1.L:e6 Lf5 2.Tg4 L:g6 3.Lg3 Lf5 4.Tf4 Lh3 5.Lg4 Lg2#.
Eckart schrieb zur Illegalität der Stellung von B1 (zitiert
nach dem Kommentar zu
P1271072 in der
PDB): "Das Lösen und
auch das Verständnis der vorliegenden Aufgabe ist [...] in
keiner Weise beeinträchtigt dadurch. Um die Legalität
herzustellen, musste der Autor gravierende Einbußen an Eleganz
und Ökonomie hinnehmen [...]. Dabei hatte er doch schon
"Künstlerpech" durch die Notwendigkeit der sD - ein sL
hätte gereicht und ein sB hätte dadurch eingespart
werden können, doch dieser sL wäre eine
Umwandlungsfigur gewesen! Wie auch immer, ich entschied mich
für die provokante spezielle Auszeichnung der
ursprünglichen (illegalen) Version. Die Auszeichnung ist
jedoch ebenso für die oben erwähnte (legale) Korrektur
gültig!" Sollte man vielleicht provokativ noch weiter gehen
und die schwergewichtige sDa6 durch einen sL ersetzen und damit
auch noch den sBd6 einsparen?
C) Theodor Steudel
Problemkiste 1996
h#5 (6+6)
Problem C stellt einen anderen Aspekt zur
Diskussion: Wie wichtig ist die Intention des Autors? Das
Problem wurde innerhalb eines Aufsatzes veröffentlicht, der
den Titel "Doppelexcelsior im Fünfzüger" trug, und es
zeigt dieses Thema. Lösung: 1.g5 c4 2.g:h4 c5 3.h3 c6 4.h2
cxb7 5.h1=S bxa8=D#. Die Diagrammstellung mit der Kombination
sLa8/sBb7 ist offensichtlich illegal, aber anscheinend ist das
vom Komponisten Theodor Steudel bewußt in Kauf genommen worden.
Macht das einen Unterschied bei der Entscheidung, ob die
Illegalität akzeptabel ist?
D1) Gerhard Pfeiffer
Die Schwalbe 1985
Spezielle ehrende
Erwähnung
h#9 (2+15)
Problem D1 zeigt ein Thema, das mit legaler
Stellung noch nicht dargestellt werden konnte, nämlich das
Oudot-Thema: In einem (legalen) orthodoxen Hilfsmatt wandeln
sich drei schwarze Bauern in Damen um. Gerhard Pfeiffer
benötigt 10 schwarze Bauern in der Diagrammstellung; aber
sollten wir uns nicht einfach freuen, daß er dem Oudot-Thema so
nahe kam? Lösung: 1.d1=D Kg1 2.Dd5 Kh1 3.Df3 g:f3 4.a1=D f4
5.Da2 f5 6.De6 f:e6 7.c1=D e7 8.Dc5 e8=S 9.Da7 Sc7#.
D2) Reinhardt Fiebig
harmonie 2005
Besonderer Hinweis
h#9 (2+14)
Natürlich wäre es besser, wenn das Thema in legaler
Stellung erreicht würde; und inzwischen gibt es sogar schon
eine Darstellung mit nur 9 schwarzen Bauern: D2
von Reinhardt Fiebig. Lösung: 1.e1=D Ka1 2.Dc3+ Kb1 3.Db3+
a:b3 4.f1=D b:c4 5.Df4 c5 6.Dd6 c:d6 7.g1=D d7 8.Dg6 d8=S 9.Dh7
Sf7#. Preisrichter Eckart Kummer kommentierte harmonie 89
vom März 2007, Seite 8): "Eigentlich nur eine geschickte
Version des 10sB-Problems von Gerhard Pfeiffer [...]. Aber aus
sportlichen Gründen (nur ein Bauer trennt uns noch von der
Darstellung des Oudot-Themas!) sollte diese Stellung im Rahmen
dieses Preisberichts dokumentiert werden - daher die
ungewöhnliche Auszeichnung." Eckarts "ungewöhnliche
Auszeichnung" lautete übrigens "Besonderer Hinweis", was in
der PDB dann zu "Spezielle Erwähnung" wurde. Nebenbei
bemerkt: Was über ein Diagramm geschrieben werden darf und
soll, ist ein eigenständiges Thema, das ich hier nur ganz
kurz ansprechen kann: Im Schwalbe-Heft 277 vom Februar
2016 (Seite 403) wurde das Fiebig-Problem mit der Angabe "nach
Gerhard Pfeiffer" zitiert ...
E) Peter Kniest
feenschach 1972
5. Lob, 25. Thematurnier
h#6 (2+4)
Mit Problem E gelangen wir auf ein noch
anrüchigeres Gebiet: geduldete Duale! Das Problem nahm an
einem Thematurnier zu "entferntem Platzwechsel" teil und erhielt
vom Preisrichter Theodor Steudel ein 5. Lob. Angesichts der
Lösung kann man sich wundern, daß das Problem
überhaupt in den Preisbericht aufgenommen wurde: 1.Kd4 c4
2.Kc3 c5 3.Sc4 c6 4.Se5 c7 5.Kb3/b4 c8=D 6.Ka3 Dc3#. Hier
handelt es sich also nicht bloß um einen etwas kontroversen
Umwandlungsdual im finalen Mattzug und auch nicht um einen
sogenannten "bulgarischen" Dual im letzten Zug eines
Selbstmatts, sondern um einen eigentlich disqualifizierenden
Dual mitten in der Lösung. Darf man angesichts des
schönen thematischen Platzwechsels von sKa3 und sSe5
einfach darüber hinwegsehen? Der Preisrichter scheint
diesbezüglich eine etwas legere Einstellung eingenommen zu
haben (die er als Komponist von Problem C schon bezüglich
der Illegalität der Diagrammstellung an den Tag legte). Zur
Rechtfertigung könnte er sich vielleicht auf den Aufsatz
"In our art as in all arts" von Shlomo Seider berufen feenschach
67 vom November 1983, S. 202-208), in dem es am Ende - in der
deutschen Kurzfassung von A. S. M. Dickins und bernd ellinghoven
- heißt: "Ich wage [mich] sogar noch einen Schritt weiter (und
mache mir damit zweifellos nicht Wenige zum Gegner) und meine,
daß nicht nur vollendete Kompositionen, sondern auch Skizzen,
Schemata von Komponisten als Kunstwerke gezeigt,
veröffentlicht werden könnten. Wenn wir schon "Kunst"
machen, dann sollten wir uns auch als "Künstler" benehmen."
F) Wolfgang Pauly
Adeverul Literar si
Artistic 1935
h#5 (4+11)
Nun stimmt es zwar, daß man in Museen auch schon einmal
Skizzenbücher von großen Künstlern zu sehen bekommt;
und es ist oft interessant zu sehen, wie die Vorformen eines
großen Gemäldes aussahen. Aber andererseits gibt es bei
Skizzen und Gemälden auch kein klares
Korrektheitskriterium, wie das bei Schachproblemen der Fall ist.
Sehen wir uns zur Illustration das nebenlösige Problem F
an. Intendierte Lösung: 1.Ld7 e6 2.f2 e:d7 3.f1=L d8=S
4.Le2 Se6 5.Lg4 Sf4#. Schön und gut: Da hat der große
Wolfgang Pauly 1935 eine nette Kleinigkeit komponiert. Aber das
Problem hat auch die folgende (dualistische) Nebenlösung:
1.e2 e6 2.f2 e7 3.Kg2 e8=D 4.Kf1 Dc6 5.Ke1 Dc1#. Ist deshalb das
Problem völlig wertlos? Wenn Pauly die Nebenlösung
rechtzeitig entdeckt hätte, hätte er das Problem
sicherlich nicht veröffentlicht. Schon aus historischen
Dokumentationsgründen sind wir aber froh, daß es in der PDB
zu finden ist. Und können wir eventuell noch weiter gehen?
Darf man zum Beispiel in einem Aufsatz nicht bestimmte unfertige
Entwürfe zeigen, deren interessante Themen noch nicht
korrekt dargestellt werden konnten? (Bei klassischen Retros mit
der Forderung "Löse auf!" werden Duale ja auch akzeptiert,
weil komplette Exaktheit zu viel verlangt wäre.) Die
Löser würden sich allerdings wohl beschweren, wenn
solche Entwürfe in den Urdruckabteilungen
veröffentlicht würden. Oder hätte dann die
Nebenlösungssuche (für Nicht-Computernutzer)
vielleicht sogar einen besonderen Reiz? Landschaftsgärtner,
die sich wie Hermann Fürst von Pückler-Muskau am
Vorbild des englischen Gartens orientieren (vgl. seine Andeutungen
über Landschaftsgärtnerei von 1834), beziehen
manchmal Ruinen in ihre Planungen ein, wenn sie schöne
Aussichten bieten. Vielleicht sollten wir das auch?