Als ich gebeten
wurde, das Amt des Preisrichters für das Informaltumier 2003 zu
übernehmen, habe ich mit Freude, aber auch mit gewissen Bedenken
zugesagt. Die Freude war berechtigt, denn der Jahrgang war ein prächtiger.
Es war ein großes Vergnügen, sich intensiv mit den zahlreichen
interessanten Aufgaben zu beschäftigen. Aber auch die Bedenken
erwiesen sich als nicht ganz unbegründet; z.B. erschien es mir
zunächst als großes Problem, Aufgaben verschiedener Retroarten
miteinander zu vergleichen. In diesem Dilemma fand ich Hilfe in einem
ganz anderen Metier, nämlich bei den Hilfsmatts. Beim Entscheid
im Informalturnier 1999 (Heft 202) wurden mit einer Einteilung in drei
Gruppen "lieber von vornherein Äpfel von Birnen getrennt".
Ich halte das für klug und nachahmenswert und folge daher diesem
Beispiel mit den Abteilungen I. Retroanalyse (ohne Beweispartien und
Verteidigungsrückzüger), II. Beweispartien und III. Verteidigungsrückzüger.
Bei den 66 Retroaufgaben des Jahres 2003 blieben 10 nebenlösige
Probleme ohne Korrektur. Eine Aufgabe ist vorweggenommen und eine scheidet
wegen einer unklaren Forderung aus. 28 der übrigen Aufgaben erhalten
eine Auszeichnung (7 in I., 13 in II. und 8 in III.).
Abteilung 1: Retroanalyse (ohne Beweispartien und
Verteidigungsrückzüger)
"Wie oft habe ich dir gesagt, dass das, was übrigbleibt,
wenn du das Unmögliche ausgeschlossen hast, die Wahrheit sein muss,
so unwahrscheinlich es auch erscheinen mag?"
(Conan Doyle: Im Zeichen der Vier)
Die klassische Retroanalyse erfordert vom Löser, das vergangene
Geschehen zu erforschen, Indizien zusammenzutragen und verschiedene
Wege auszuprobieren, bis eine Auflösung gefunden bzw. die gestellte
Frage beantwortet ist. Mich erinnert das sehr an die Vorgehensweise
von Sherlock Holmes; kein Wunder, dass dieser bereits Eingang in die
Schachliteratur gefunden hat (Raymond Smullyan: Schach mit Sherlock
Holmes). Die folgenden Probleme wären sicherlich ein großes
Vergnügen für den Meisterdetektiv; sie erfordern viel Spürsinn
und zeigen inhaltsreiche Retrospiele.
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1.
Preis: 11919
Thierry Le Gleuher |
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2.
Preis: 11982
Alexander Zolotarew |
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Letzte
32 Einzelzüge?
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(13+15)
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Letzte
30
Einzelzüge
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(12+13)
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1. Preis: 11919
von Thierry Le Gleuher
Da der sK und der sT durch 1. 0-0+ unbeweglich werden, kommt Schwarz
in Zugnot. Deshalb muss möglichst schnell der sBh2 (nach Rückkehr
von wLf1 und wBg2) aktiviert und der Käfig mit wBc2-c3 (nach Rückkehr
von wKe1 und wDd1) geöffnet werden. Es ist ein Genuss, die Rückkehrmanöver
zahlreicher Steine zu ihren Ursprungsfeldern nachzuvollziehen.
1. 0-0+ 2. Tb7-b8 d6-d5 3.Kc7-c8 d7-d6 4.Kd6-c7 b5:La4 5.Ke5-d6
b6-b5 6.Lc6-a4 c5-c4 7.Lg2-c6 c6-c5 8.Lf1-g2 c7-c6 9.g2-g3 g3:Th2 10.Ke4-e5
g4-g3 11.Kd3-e4 g5-g4 12.Kc2-d3 g6-g5 13.Kd1-c2 h7:Dg6 14.Dc2-g6 e4-e3
15.Ke1-d1 e5-e4 16.Dd1-c2 e6-e5 17.c2-c3 weiter z. B. Tg3-c3, Sb5-a7,
Ld5-a2, Ta7-b7, Lc8-b7-d5, Ta6-a7, Bb7-b6 usw. Hervorragende Choreographie
der weißen Figuren und der schwarzen Bauern, deren Wege sich mehrmals
kreuzen! Das Ganze läuft bei absoluter Eindeutigkeit mit uhrwerkartiger
Präzision ab.
2. Preis: 11982 von Alexander Zolotarew
Die Auflösung des Käfigs ist erst nach der Rückkehr des
wLf1 (nebst wBe2:f3) möglich. Um den Läufer auf das Brett
zu bringen, muss eine wFigur nach d8 gelangen und der sBc2 nach c7 (damit
wBd7-d8X, wBc6:Ld7, sLc8-d7, sBd7:Le6 möglich wird). Versucht man
im Folgenden 5.-9.Sd8-e8??, so benötigt Schwarz einen Zug zu viel.
Die Auflösung verläuft daher über mehrere Entfesselungsstationen:
1. Lf8:Sg7+ 2.d2:Te3 Te5-e3 3.b3-b4 Tg5-e5 4.Se8-g7 Tg7-g5+
5.Sc7-e8 c3-c2 6.Sd5-c7 c4-c3 7.Sf4-d5 Sg5-h3 8.Sh3-f4+ c5-c4 9.Dd3-h7
Sh7-g5+ 10.Dd8-d3 c6-c5 11.d7-d8D c7-c6 12.c6:Ld7 Lc8-d7 13.c5-c6 d7:Le6
14.Lc4-e6 g5-g4 15.Lf1-c4 Kg4-h4 16.e2:Sf3+ usw. Lange eindeutige Zugfolge
mit einer sehr schönen Entfesselungsserie!
Abteilung II: Beweispartien
"David ist schon drin; ich haue einfach alles weg, was ihn verborgen
hält."
(Michelangelo auf die Frage, wie er den David aus einem Marmorblock
hauen könne)
Es erstaunt mich stets von Neuem, welche Vielfältigkeit bei eindeutigen
Beweispartien möglich ist. Die Autoren haben nichts anderes als
die Partieanfangsstellung zur Verfügung und zaubern daraus immer
wieder interessante und ganz unterschiedliche Zugfolgen hervor (so wie
Bildhauer aus gleichartigen Blöcken völlig verschiedene Skulpturen
herausmeißeln).
Einige der Themen tragen besondere Namen, z.B. das Ceriani-Frolkin-Therna
(eine UW-Figur wird geschlagen), das Pronkin-Thema (eine Figur wird
geschlagen und auf ihrem Ursprungsfeld durch einen Phönix ersetzt,
d.h. durch eine UW-Figur gleicher Art) und das Anti-Pronkin-Thema (eine
UW-Figur wird durch eine gleichartige Originalfigur auf dem UW-Feld
ersetzt).
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1.
Preis: 12046
Gerd Wilts
Michel Caillaud gewidmet
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2.
Preis: 11860
Rustam Ubaidullaev |
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Beweispartie
in
23,5 Tügen
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(13+16)
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Beweispartie
in
17,5 Zügen
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(16+15)
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1. Preis: 12046
von Gerd Wilts
Hier stimmt einfach alles: ein großartiges Thema, viele taktische
Raffinessen und eine perfekte Darstellung. Als Löser stellte ich
zunächst folgende Zugbilanz für Schwarz auf: 3 Züge der
BB (a7-a5 ist natürlich viel wahrscheinlicher als a7-a6-a5 oder
a7:b6:a5), 5 der SS (Sg8 musste den Th8 heraus lassen), 5 der LL, 4
der TT, 3 der D und 3 des K, womit die 23 schwarzen Züge aufgebraucht
waren. Ich versuchte das Damenmanöver Dd8-g8-g1-b1 mit vorübergehender
Räumung der weißen Grundreihe und anschließenden Switchbacks
(wäre ja auch nicht schlecht); das Fehlen des wBa2 konnte so jedoch
nicht erklärt werden. Wenn sich aber das Wahrscheinliche als unmöglich
erweist, dann muss das Unwahrscheinliche richtig sein; daher probierte
ich schließlich auch a7:b6:a5. Und damit platzte der Knoten, denn
es geht nicht nur ein Zug verloren, mit Ta8-a3-h3 wird auch einer gewonnen.
Die sD erhält den neuen dreizügigen Weg Dd8-a8-a2-b1 und der
wBa2 kann sich umwandeln. So fügte sich eins ins andere. Als ich
schließlich noch die weißen und die schwarzen Züge
irn Vorwärtsspiel miteinander verzahnte, kristallisierten sich
immer deutlicher fantastische Turrnmanöver heraus: 1.b4 d6 2.Lb2
Kd7 3.Ld4 Ke6 4.Lb6 a:b6 5.Sc3 Ta3 6.Se4 Th3 7.a4 Ke5 8.Ta3 Le6 9.Tf3
Sd7 10.Tf6 g:f6 11.a5 Lh6 12.a6 Le3 13.a7 Sh6 14.a8T! Te8 15.Ta1! Da8
16.g4 Da2 17.g5 Db1 18.Ta5+! b:a5 19.g6 Sb6 20.g7 Sa8 21.g8T Lb6 22.Tg3
Sg8 23.Ta3 Lb3 24.Ta1 Dass ein Turm sich opfert und ein Phönix
auf sein Ursprungsfeld gelangt, ist heutzutage keine Sensation mehr.
Geradezu unglaublich aber ist, dass nach kurzem Zwischenhalt der Phönix-Turm
sich ebenfalls opfert und durch einen weiteren Phönix ersetzt wird.
Ein höchst erstaunlicher Doppel-Pronkin!
2. Preis:
11860 von Rustam Ubaidullaev
1.b3 c6 2.La3 Dc7 3.Lc5 Dg3 4.h:g3 Sf6 5.Th4 Sd5 6.Ta4 f6 7.e4 Kf7 8.Lc4
Kg6 9.Kf1 Kg5 10.Dg4+ Kh6 11.Dh4+ Kg6 12.Se2 Kf7 13.Kg1 Ke8 14.Kh2 Se3
15.Le6 Sf5 16.c4 Sh6 17.Sbc3 Sg8 18.Th1
Ein herrliches Tempoverlustmanöver in Form eines sehr amüsanten
"Schulausflugs" mit zwei Figurenrundläufen! Der S = Schullehrer
sperrt die Straße c4-g8 ab, um der K = Klasse das Überqueren
zu ermöglichen. Nach dem kleinen Ringelreigen g6-g5-h6-g6 auf dem
Spielplatz kehren alle wohlbehalten zurück. Das Ganze wirkt wie
mit leichter Hand hingezaubert.
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3.
Preis: 11787
Reto Aschwanden |
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4.
Preis: 11986
Gerd Wilts
Thierry Le Gleuher gewidmet
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Beweispartie
in
19,0 Zügen
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(13+14)
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Beweispartie
in
16,0 Zügen
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(12+13)
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3. Preis: 11787
von Reto Aschwanden
1.d4 h5 2.d5 h4 3.d6 Th5 4.d:c7 d5 5.c4 Dd7 6.c5 Dh3 7.c6 Lg4 8.c8L!
Sh6 9.Ld7+ S:d7 10.c7 Sf6 11.c8L! Sh7 12.Lf5 T:f5 13.e4 0-0-0 14.e5
Td6 15.e6 Ta6 16.e:f7 e5 17.b3 La3 18.f8L! Lb2 19.La3 T:a3 Dreifachsetzung
des Ceriani-Frolkin-Themas in bestechender Form! Drei Bauern, deren
Ausgangsfelder direkt nebeneinander liegen, wandeln sich in Läufer
um. Diese werfen sich jeweils einzügig in den Weg einer schwarzen
Figur, um von dieser (und nicht von einem Bauern) geschlagen zu werden.
Die langen Läuferzüge Lf8-a3 im gemischtfarbigen Doppel bilden
in Verbindung mit dem Turmmanöver Td6-a6:a3 einen schönen
Abschluss.
4. Preis: 11986
von Gerd Wilts
1.b4 h5 2.b5 Th6 3.b6 Tg6 4.b:a7 T:g2 5.a:b8S T:g1 6.S:d7 Th1 7.Se5
Lg4 8.Sf3 e6 9.Sg1 Lc5 10.Lh3 Ld4 11.Kf1 c5 12.Kg2 Dc7 13.Sf3 0-0-0
14.Se5 Kb8 15.Sd7+ Ka7 16.Sb8 T:b8 Ein geradezu unheirnliches Manöver
eines "Geisterpferdes"! Dieses taucht unmittelbar vor dem
"Tod" des Sg1 auf, vollführt Sprünge quer über
das ganze Brett bis zum "Todesfeld", kehrt zurück und
verschwindet dort, wo es erschienen ist.
Abteilung III:
"Wusst ich's doch! Was hab ich gesagt? Wir können zurückreisen!
In die Vergangenheit."
(Stephen Fry: Geschichte machen)
Bei einem Verteidigungsrückzüger versucht Weiß, durch
seine Rückzüge ein bestimmtes Ziel zu erreichen, wogegen
sich Schwarz so weit wie möglich wehrt (die beiden Gegner führen
also einen in die Vergangenheit gerichteten Kampf aus, ähnlich
wie Zeitreisende in einschlägigen Science-fiction-Romanen und
-Filmen). Beim Typ Proca entscheidet der Zugausführende, ob ein
Stein entschlagen wird und gegebenenfalls welcher. Schwarz hat bei
einem "#1 vor n Zügen" die Möglichkeit der Vorwärtsverteidigung:
auch er darf falls möglich im Vorwärtsspiel
einzügig Matt setzen.
Eine Neuerung
der letzten Jahre sind die Anticirce-Procas (bei Anticirce wird ein
schlagender Stein nach dem Schlagzug auf sein Ursprungsfeld versetzt
dieses muss vorher frei sein; beim Typ Cheylan darf ein Stein
nicht auf sein eigenes Ursprungsfeld schlagen). Die entsprechenden
Probleme sind manchmal geradezu atemberaubend (meist jedoch auch von
extremer Schwierigkeit). Da aber auch die orthodoxen Procas dieses
Jahrgangs mit originellen Darstellungen überzeugen konnten, war
die genaue Festlegung der Reihenfolge in dieser Abteilung nicht ganz
einfach. Bei zwei der Anticirce-Aufgaben gab es für mich allerdings
keinerlei Zweifel; sie zeigen die neuen Retro-Effekte mit hervorragenden
Königsmanövern in perfekten Darstellungen.
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1.
Preis: 11788
Wolfgang Dittmann |
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1#
vor 15 Zügen
VRZ, Typ Proca
Anticirce Typ Cheylan
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(6+8)
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1. Preis: 11788
von Wolfgang Dittmann
Der Hauptplan "zurück: Ka6:Ba5(Ke1), vor: Tf4#" zeigt,
wie ungewöhnlich die Zugmöglichkeiten bei Anticirce sein
können. Der wK steht auf a6 nicht im Schach (wegen der Blockade
auf a7) und kann seinem Kontrahenten im Vorwärtsspiel tatsächlich
den Ba5 vor der Nase wegschnappen (er springt ja sofort nach e1 weiter).
Der Hauptplan scheitert noch an 1. Dd4 (nicht an 1. T:f4??
wegen Dh8); daher wird in einem Vorplan die Linie h8-d4 verstellt
und zwar durch Kg6:Tg7 (Ke1), da dann der wK unter Beschäftigung
der sD auf die Grundreihe zurückkehren kann (der wK stellt sich
abwechselnd auf weißen und schwarzen Feldern ins Schach und
zwar so, dass die sD jeweils a8 bzw. h8 besetzen muss). Damit aber
der wK bis nach e1 gelangt, um erneut schlagen zu können, muss
ein weiterer Vorplan vorgeschaltet werden. Zurück: 1.Kb1:Ta1
(Ke1)!! Da8-h8+ 2.Kc1-b1 Dh8-a8+ 3.Kd1-c1 Da8-h8+ 4.Ke1-d1 Dh8-a8+
5.Kg6:Tg7(Ke1)! Da8-h8+ 6.Kg5-g6 Dh8-a8+ 7.Kg4-g5 Da8-h8+ 8.Kg3-g4
Dh8-a8+ 9.Kg2-g3 Da8-h8+ 10.Kg1-g2 Dh8-a8+ 11.Kf1-g1 Da8-h8+ 12.Ke1-f1
Dh8-a8+ Das Etappenziel ist erreicht. Dem Hauptplan steht aber ein
neues Hindernis gegenüber; Tf4# scheitert nun an Th1-a1!. Daher
erfolgt in einem dritten Vorplan eine weitere Verstellung: 13.Kf1:Sg1
(Ke1)! Da8-h8+ 14.Ke1-f1 Dh8-a8+ 15.Ka6:Ba5 (Ke1)!, vor: 1.Tf4# Mit
ihren gestaffelten Vorplänen, den beiden "Turmstraßen"
und einem fantastischen Schwalbenflug der Dame ist diese Aufgabe ein
wahres Meisterwerk!
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2.
Preis: 11990v
Klaus Wenda
Wolfgang Dittmann zum 70. Geburtstag gewidmet
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Matt
vor 4 Zügen
VRZ, Typ Proca
Anticirce Typ Cheylan
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(2+10)
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2. Preis: 11990v
von Klaus Wenda
Wie man den Gegner zur Rücknahme einer Rochade zwingen kann (wobei
K und T vorher erst in die notwendigen Positionen gelenkt werden),
wird in diesem Anticirce-Proca aufs Schönste demonstriert. zurück:
1.Kc5:Td4 (Ke1)! Lh8-g7+ 2.Kc4-c5 Td8-d4+ 3.Kd4-c4 Kd7-e7+ 4.Ke4-d4
Kc8-d7+ 5.Kd5-e4 0-0-0+ 6.Ke6-d5, vor: 1.Tb8# Der weiße König
leistet Erstaunliches. Zunächst entschlägt er den zur Rochade
benötigten Turm und lenkt den sL nach h8 (zur Vorbereitung des
Mattzugs). Anschließend stellt er sich in ein Doppelschach,
so dass einer der Schach bietenden Steine (T) das Ursprungsfeld des
anderen (D) besetzen muss. Danach lenkt er den sK über die Ursprungsfelder
von B und L nach c8 (man beachte, dass im 3. und im 4. Zug der Td8
"gefesselt" ist); ein erneutes Doppelselbstschach erwingt
schließlich die Rochade. Ein großartiges Königsmanöver!
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