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Zwei Serienzüger und eine Hilfspartie aus dem Mittelalter
von Jürgen Tschöpe, Löhne
Von großer schachhistorischer Bedeutung sind zwei anglo-normannische Traktate aus der Zeit um 1270 bzw. 1300. Sie enthalten ein Reihe bemerkenswerter Aufgaben, z. B. die ältesten Selbstmatts, die wir kennen.1) Vermutlich sind auch die Serienzüger A und B die ersten überlieferten Exemplare dieser Gattung: Schwarz beginnt und setzt in 5 bzw. 11 Zügen matt; Weiß darf nur ziehen, wenn Schach geboten wird. Nach heutigen Maßstäben sind beide Aufgaben inkorrekt. In A gibt es für eine der Hauptrollen sogar eine Zweitbesetzung: "Im ersten Zug zieht der schwarze König einen beliebigen seiner Türme [son roc le tiel kil voldra] auf das dritte Feld". Moderne Anschauungen sind aber oft fehl am Platz, wenn es darum geht, mittelalterliche Aufgaben zu bewerten. Spielen wir also die Lösungen wenn auch nicht genuss-, so doch respektvoll nach.2)
A Anonymous
(5) MS. Cotton Cleopatra
B IX
British Library
London ca. 1270
siehe Text (13+14)
= Fers (1:1-S)
= Alfil (2:2-S)
B Anonymous
(26) MS. Royal 13 A XVIII
British Library
London ca. 1300
siehe Text (16+16)
= Fers (1:1-S)
= Alfil (2:2-S)
Diese Aufgabe nimmt den Paradenserienzüger vorweg.
Die Begleittexte zu den Aufgaben sind in Versform geschrieben. Über gelegentliche metrische Unebenheiten darf hinweggelesen werden.3)
Es überrascht, dass in Murrays History of Chess die Serienzugbedingung in zwei sehr unterschiedlichen Fassungen erscheint: "Wh. only plays if checked or if one of his men is taken" bzw. " [Wh.] can only move when checked or to make a capture".4) Nur die jeweils erste Hälfte scheint mir wiederzugeben, was die Originaltexte sagen wollen: Der weiße König darf sich nur bewegen, wenn Schach geboten wird, und für die anderen weißen Steine gilt das gleiche. Die Einschränkung, dass letztere nur ziehen dürfen, wenn sie schlagen können, ergibt keinen Sinn, denn nähme man die Worte ernst, wären Kurzlösungen möglich. Die Autoren haben wohl übersehen, dass ein Schachgebot des Turms - Läufer und Dame gab es noch nicht - manchmal auch durch Linienverstellung pariert werden kann.5)
Text zu A:
'Cuvenant lei veint' cist giu ad nun Assez a dreit e a reisun, Kar le covenant ke cist dui rai Unt establé entre sei Freint la lei de l'eschekir E fet l'un rei l'autre jugier. Li covenanz dunt vos di Est si fet e establi Ke le vermeil rei pur nul estuver, Si pur eschek nun, ne se deit muver, Ne nul des seons pur nul destreit, Si il d'altri prendre ne poeit. Li reis neir comence la bataille E al quint treit sanz nule faille Le vermeil rei veit matant Entre les suens u se afie tant. |
"'Vertrag besiegt Gesetz' heißt diese Aufgabe,6) und zwar sehr zu Recht. Denn der Vertrag, den diese beiden Könige miteinander geschlossen haben, bricht das Gesetz des Schachbretts und macht es möglich, dass der eine König den andern mattsetzt. Der erwähnte Vertrag besagt, dass sich der rote König unter keinen Umständen bewegen darf, außer er steht im Schach; und das darf auch keiner der eigenen Steine, wenn er keinen gegnerischen schlagen kann. Der schwarze König beginnt den Kampf, und ohne Zweifel wird er im fünften Zug den roten König inmitten der Seinen mattsetzen, denen er doch so sehr vertraut." |
Text zu B:
Covenant fet ley7) 'Covenaunt fet ley' ceo guy si ad noun E cy est appellé de graunt resoun, Kar un covenaunt ke deyt estre ley Si unt establi lé deuz reys entre sey. Le covenaunt est tiel ke le vermail rey Si pur eschec noun ne deyt mover sey, Ne nul de lé seons trere ne deyt Si noun ke de l'altre part prendre porreyt. De le long assise ceste guy est, Sy pust estre jué de quel part ke vus plest, Mes en ceste maner cum vus enseygneray. Le neyr rey a vermail le batalie fray E a l'unzime tret l'altre deyt mater, E ky seth le un guy, l'altre puet juer. |
Die ersten acht Verse stimmen inhaltlich mit den ersten zwölf des A-Textes überein. Der einzige nennenswerte Unterschied besteht darin, dass im B-Text der Vertrag ein neues Gesetz schafft Covenaunt fet ley), während er im A-Text ein bestehendes abschafft Cuvenant lei veint). Ab Vers 9 heißt es dann: "Dies ist ein Spiel aus der langen Assise [siehe unten] und kann je nach Belieben von beiden Parteien gespielt werden, aber so, wie ich es euch lehren werde. Der schwarze König führt den Kampf gegen den roten und soll ihn im elften Zug mattsetzen. Und wer das eine Spiel kennt, kann auch das andere spielen." |
Im B-Text heißt es: De le long assise ceste guy est. Der Begriff "Assise" bezeichnete u. a. die Sitzordnung der Gäste bei Tisch. Mit dieser Kenntnis und einem Blick aufs Diagramm ist leicht zu erraten, in welcher Bedeutung der Autor das Wort verwendet. Nur: Wenn dies eine "lange" Assise ist, wie mag dann wohl eine kurze beschaffen sein? Die Antwort gibt ein Diagramm aus demselben Manuskript: In der Partieausgangsstellung hat jede Partei ihre 16 Steine, die aber tummeln sich auf jeweils nur 9 Feldern. Wir sehen "a different and more advanced arrangement of the pieces". (Frei interpretiert: Tischgesellschaft in fortgeschrittenerem Stadium.)
C Anonymous
(25) MS. Royal 13 A XVIII
British Library
London ca. 1300
siehe Text (9+9)
= Fers (1:1-S)
= Alfil (2:2-S)
Text zu C:
Le Guy de ly enginous e ly
coveytous 'De engynous e covetous' ceo guy si ad noun. Par coveytise, noun par force, ert le mateysoun. Ensy est en batalie kaunt l'en deyt cumbater, Sovent sount descounfis ky vount entour spolier, Kar lour coveytise est si graunt ke tut sunt envuglez, Ke ne veyunt lour enemis ke lour venunt deleez. E sachez ke ceste guy est dele court asise, E celi ke tret primer put par coveytise A le quinte tret soun adversarie mater Ov vn poun erraunt en mylu de l'eschecker. |
"'Vom Klugen und vom Gierigen' heißt dieses Spiel. Das Matt kommt durch Gier zustande, nicht durch Stärke. So ist es in der Schlacht, wenn man kämpfen muss: Oft geraten die ins Verderben, die umherstreifen um zu plündern. Denn ihre Gier ist so groß, dass sie ganz blind sind und nicht sehen, wie ihre Feinde näherkommen. Ihr müsst wissen, dass dies ein Spiel aus der kurzen Assise ist. Und wer zuerst zieht, kann seinen Gegner wegen der Gier im 5. Zug mit einem fahrenden Bauern10) in der Mitte des Schachbretts mattsetzen." |
1) Für einen kleinen Einblick in die Manuskripte kann man die Online Gallery der British Library aufrufen und z. B. nach "chess diagrams" suchen lassen.
2) Die Aufgaben und die Lösungen werden zitiert nach Harold J. R. Murray: A History of Chess, Oxford 1913, S. 586 bzw. 594 u. 477.
3) Die Texte werden zitiert nach T. Hunt (ed.): Les Gius Partiz des Eschez. Two Anglo-Norman Chess Treatises, London 1985.
4) Murray, a. a. O., S. 586 bzw. 594.
5) Vielleicht hätte sich die Serienzugbedingung einfacher formulieren lassen. Man sollte den Autoren aber zugutehalten, dass sie sowohl das Versmaß zu erfüllen als auch Reime zu finden hatten.
6) Die eigentliche Bezeichnung für eine Schachaufgabe, giuparti ("geteiltes Spiel"), wird in beiden Traktaten meist zu giu verkürzt.
7) Überschriften, genauer: Rubriken, haben die Aufgaben nur in dem später entstandenen Traktat. (Gut zu sehen auf einer der Seiten in der Online Gallery.)
8) Murray, S. 477.
9) Zu den Vorläufern zählen sie übrigens auch die alten Serienzüger.
10) Ein poun erra(u)nt ist ein mattsetzender Bauer (siehe Murray, S. 751). Meine Übersetzung orientiert sich am chevalier errant, dem fahrenden Ritter.
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