Heft 257, Oktober 2012

Todesfälle

Der plötzliche Tod von Denis Blondel, der ihn buchstäblich mitten im Leben, nämlich bei einem Tennisspiel ereilte, hat die Problemwelt erschüttert. Er war nicht nur die tragende Säule des internationalen Projekts FIDE-Album, dessen Redaktion seit langem überwiegend in seinen Händen lag, sondern zusätzlich auch ein wesentlicher Pfeiler der französischen Problemschachszene. Fast im Alleingang hat er 1986 das PCCC-Treffen in Fontenay-sous-Bois vor den Toren von Paris organisiert. Er war es, der 1988 nach dem zwischenzeitlichen Ende von Thèmes 64 nicht nur für dessen phönixgleiches Wiederauferstehen sorgte, sondern dieser Traditionszeitschrift mit Rex multiplex und Phénix gleich noch zwei Begleitmagazine zur Seite stellte, die dann im Lauf der Zeit zu einem gemeinsamen Heft verschmolzen. Es bleibt zu hoffen, dass es den französischen Problemisten gelingen möge, diesen Phénix nach dem schmerzhaften Verlust erneut zum Fliegen zu bringen und Denis' Arbeit fortzuführen.

Kurz vor Redaktionsschluss erfuhren wir, dass der Doyen der italienischen Problemisten, Oscar Bonivento aus Bologna, kürzlich verstorben ist. Jahrzehntelang war er Problemredakteur von L'Italia Scacchistica und seit ungefähr 10 Jahren publizierte er regelmäßig Bücher, die sich unterschiedlichen Aspekten der italienischen Schachkomposition widmeten.

Kalenderblatt

Vor 25 Jahren verstarb der große Schachpublizist und Buchsammler Dr. Meindert Niemeijer (18.2.1902-5.10.1987). Geboren im Jahr 1902, das vier bedeutende niederländische Problemisten hervorgebracht hat, trug er schon vor dem 2. Weltkrieg eine umfangreiche Bibliothek zusammen, die er 1944 vor dem Zugriff der deutschen Besatzung in Sicherheit bringen konnte und die 1948 an die königliche Bibliothek in Den Haag ging, wo sich seit 1876 schon die von Antonius van der Linde zusammengetragene Bibliothek befand; beide zusammen sind als Bibliotheca Van der Linde-Niemeijeriana bekannt und bilden die weltweit zweitgrößte Schachbibliothek. Niemeijer verfasste eine große Zahl von problemschachlichen Büchern, Broschüren und Artikeln, daneben komponierte er auch noch mehr als 600 Probleme.

Günter Schiller (31.10.1937-4.10.1992) gehörte zu den ganz wenigen DDR-Problemisten, denen der persönliche Kontakt mit westlichen Komponisten gelang. Durch seine Diabetes zum Frührentner geworden, taten sich ihm Reisemöglichkeiten auf, die anderen verwehrt blieben, und dadurch konnte er mehrfach zu Besuchen in den Westen reisen. So besuchte er Werner Speckmann in Hamm und erstellte dabei nebenbei einen Katalog von dessen Bibliothek; beim Treffen der PCCC 1987 in Graz sprang er überall ein, wo eine helfende Hand gebraucht wurde, aber sein Verband gestattete ihm nicht, das PCCC-Mitglied DDR in der Kommission zu vertreten. Vor zwanzig Jahren erlag Günter Schiller seiner Krankheit, jetzt wäre er 75 Jahre alt geworden.

Vor 125 Jahren wurde Dr. Eduard Birgfeld geboren (12.9.1887-7.5.1939). Er entstammte einer angesehenen Hamburger Familie und war beruflich als leitender Arzt des städtischen Krankenhauses in Meißen tätig. Zum Problemschach fand er, wie Wilhelm Maßmann im Schwalbe-Sonderhaft zu Birgfelds 50. Geburtstag berichtet, etwa 1917, als sein Name in der Löserliste des Deutschen Wochenschachs auftauchte. Birgfelds Aufstieg als Komponist vollzog sich innerhalb erstaunlich kurzer Zeit und bereits 1919 trat er, der sich von Anfang an insbesondere dem Selbstmatt widmete, mit mehreren Artikeln als Problemtheoretiker hervor. Schon 1922 erschien sein opus magnum, die berühmte Selbstmatt-Zugwechsel-Monographie Fata Morgana mit fast 1000 Problemen, darunter 700 Urdrucke, zu deren Komposition er mit großem Einsatz eine Heerschar von Komponisten zu mobilisieren verstand.

Nach der Übernahme der Schachspalte des Chemnitzer Tageblatts 1924 konnte Birgfeld dieses "Antriebsvermögen" (Maßmann) auf ein breites Publikum wirken lassen, und was dabei herauskam, war eine der berühmtesten Schachspalten der Problemgeschichte. Der 1998 in der Kuhn-Murkisch-Serie erschienene Band Schach des Chemnitzer Tageblattes 21.12.1924-28.10.1928 war ein Versuch, diese Spalte dem heutigen Leser wieder zugänglich zu machen; leider versetzte Kuhns früher Tod dem auf zwei Bände angelegten Projekt ein vorzeitiges Ende.

Vielfältige internationale Kontakte unter Problemisten ließen den Wunsch nach einer internationalen Vereinigung aufkommen, für deren Gründung Birgfeld sich seit 1926 einsetzte (man bedenke: erst zwei Jahre zuvor war der Weltverband FIDE gegründet worden). Als es zwei Jahre später zur Gründung des International Problem Board (IPB) kam, wurde Birgfeld zu dessen Präsident gewählt. Der IBP existierte bis 1959 und ging dann in die kurz zuvor gegründete PCCC über; man kann Birgfeld daher durchaus als Gründervater des heutigen Weltverbandes der Problemisten WFCC ansehen.

Zum riesigen Arbeitspensum Birgfelds ist an herausragender Stelle seine Wiederbelebung der Schwalbe zu nennen. Nach deren erstem Aufflackern 1924/25 war sie für einige Jahre im Funkschach untergekommen. Nachdem dort 1927 Funkstille eingetreten war, gelang es Birgfeld durch enormen Arbeitseinsatz und finanzielle Unterstützung, die Zeitschrift wieder als eigenständiges Organ auferstehen zu lassen. Die parallel dazu erfolgende Übernahme des Schwalbe-Vorsitzes mag den heutigen Betrachter zu der Vermutung verleiten, dass hier eine Ein-Mann-Unternehmung entstand, deren Existenz nur von seinem persönlichen Einsatz abhing. Dies mag am Anfang zutreffend gewesen sein, doch Birgfelds Organisationsgeschick war es zu verdanken, das ein großer Mitarbeiterstab bereitstand; Maßmann schreibt dazu: "Wer ihm den kleinen Finger bot, dessen ganze Hand nahm er. Ob man wollte oder nicht, man musste mitmachen." Nur so ist es auch zu erklären, dass die Schwalbe nach Birgfelds viel zu frühem Tod mit 51 Jahren, noch dazu unmittelbar vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges, als Organisation und Zeitschrift gefestigt dastand und weitergeführt werden konnte.

Eduard Birgfeld

Der Sammler 1918

wKh5, wDg5, wTh4h6, wLb8f1, wSc1, wBa4b2b3b6, sKa6, sLd1, sSe2, sBa5b4b7c2

s#4 (11+7)

Als sich mir vor einigen Jahren durch Kontakt zu Franz Benkö ein weiter Blick zurück in die Schwalbe-Geschichte auftat (siehe Heft 226, August 2007, S.175-177), wurde auch Birgfeld erwähnt, den Benkö noch persönlich kennengelernt hat. Er schrieb: "Ich erinnere mich noch heute, dass Dr. Birgfeld, ein sehr sympathischer Herr, der in Meißen wohnte, mehrmals zu einem Schwalben-Abend nach Berlin kam. Besonders erinnere ich mich, als er einmal seinen berühmten Selbstmatt-Vierzüger mit dem Rundlauf des weißen Königs zeigte." Diese Aufgabe sei auch hier gezeigt (Lösung 1.Kg6 K:b6 2.Kf5+ Kc5 3.Kg4+ Kd4 4.Kh5+ Sf4#).

Vor 150 Jahren wurde der englische Partiespieler und Problemist Charles D. Locock geboren (27.9.1862-13.5.1946). Er war wohl nicht gerade der ersten Komponistengarde zuzurechnen, fiel aber durch einige seinerzeit ungewöhnliche Ansichten auf, die er selbst als "heterodox" einstufte. Seine Heterodoxie bezog sich im Wesentlichen auf zwei Kriterien, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine wichtige Rolle in der englischen Problemkunst spielten: Dualfreiheit und Mattreinheit. Beides war ihm nicht so wichtig wie die Strategie, gepaart mit Verführungen und Schwierigkeit. In Drohproblemen hielt er die Forderung nach totaler Dualfreiheit für unsinnig, und ein Matt sollte für ihn in erster Linie elegant und überraschend sein; es war lediglich ein zusätzlicher Bonus, wenn es dann auch noch rein war.

Auch Hermann von Gottschall (16.10.1862-7.3.1933) wäre 150 Jahre alt geworden. Von 1887 bis 1896 war er Herausgeber der Deutschen Schachzeitung. Daneben publizierte er 1912 eine auch heute noch gesuchte Anderssen-Biographie und unternahm Streifzüge durch das Gebiet des Schachproblems (1926).

Die beiden letzten Namen führen weit zurück in die Anfänge des modernen Schachs: Zu nennen sind der vor 200 Jahren verstorbene Elias Stein (5.2.1748-12.9.1812) und der zwei Generationen jüngere, vor 225 Jahren geborene Engländer William Lewis (9.10.1787-22.8.1870). Stein stammte aus dem Elsaß und lebte überwiegend in Den Haag, wo er als Lehrer des Prinzen von Oranien das Schachspiel nicht nur hoffähig machte, sondern durch die Abfassung eines 1789 im Selbstverlag erschienenen Lehrbuchs auch zur Verbreitung des Schachspiels in den Niederlanden beitrug. Sein zunächst auf französisch, später auch in holländischer Übersetzung erschienenes Buch Nouvel essai sur le jeu des échecs. Avec des réflexions militaires relatives à ce jeu war noch ein typisches Werk des 18. Jahrhunderts, das mehr oder weniger eine Kompilation aus den im 16. und 17. Jahrhundert in Spanien und Italien erschienenen Büchern darstellte. Neu war allerdings Steins Anmerkung zu einem der 20 in dem Buch behandelten Abspiele, dass die beste Erwiderung auf den Eröffnungszug 1.d2-d4 in f7-f5 bestehe, was ihn zum Begründer der holländischen Verteidigung machte. Ob die den Band abschließenden 7 Probleme von Stein komponiert wurden oder aus anderer Quelle stammen, wird nicht gesagt. Etwas anders sieht es im von William Lewis 1844 publizierten Treatise on the Game of Chess aus. Auch dort gibt es am Ende des Buchs einige (25) "Neue" Probleme, auch dort werden sie in anonymer Form präsentiert, aber mehr als 500 Seiten vorher erfährt der aufmerksame Leser im Vorwort, dass diese alle von H. Bolton stammen. Lewis ist ein früher Repräsentant der neuen, mehr an der Analyse als der bloßen Wiedergabe von Varianten interessierten moderneren Generation, er lernt die Arbeiten von Jaenisch, Bilguer und von der Lasa kennen und bedauert im Vorwort seines Buches ausdrücklich, dass ihm diese zu spät bekannt wurden, um sie noch in seinem Werk berücksichtigen zu können. [GüBü]


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