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Heft 268, August 2014

 


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Bemerkungen und Berichtigungen 588
Turnierberichte 588

 

Zum 100. Todestag von Carl Kockelkorn

von Günter Büsing, München

Kohtz & Kockelkorn - oder kurz K&K - sind im Problemschach das, was man in der Werbung eine berühmte Marke nennt. Jeder auch nur halbwegs mit der Materie vertraute Schachfreund verbindet diese Namenskombination (die immer in dieser Reihenfolge auftritt - niemals sah ich den alphabetisch knapp vorne liegenden Kockelkorn an erster Stelle stehen) einerseits mit Spitzenleistungen in der altdeutschen Problemschule und andererseits mit dem "Aufstand" gegen die Prinzipien ebendieser Schule, der, ausgehend von ihrem 1903 erschienenen Buch Das Indische Problem, zu einer völlig neuen Sichtweise auf die Schachkomposition führte. Wenn es aber darum geht, etwas über die hinter der Marke K&K stehenden Personen zu erfahren, dann weiß der gut informierte Problemist vielleicht noch, daß Kohtz als Ingenieur in Königsberg tätig war und Kockelkorn im heimischen Köln blieb und seinen Lebensunterhalt als Privatlehrer bestritt, aber mehr war kaum bekannt. Als ich vor einigen Jahren zufällig auf das von Kohtz verfaßte fragmentarische Manuskript seiner Lebenserinnerungen stieß (Manuskript in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek (SLUB) Dresden, Signatur Msc. Dresd. App. 158; Veröffentlichung in Vorbereitung), konnte ich daraus ein umfassenderes Bild über die Persönlichkeiten der beiden gewinnen. Zum 100. Todestag von Carl Kockelkorn am 18. Juli sei daher ein aus den autobiographischen Aufzeichnungen seines lebenslangen Schachpartners extrahiertes Gedenkblatt vorgelegt.

Die beiden lernten sich im Oktober 1858 kennen, als 15-jährige Primaner der Höheren Bürgerschule zu Köln. Kohtz schreibt: "Es war aber nicht die Lust am Schachspiel sondern die Neigung zur Mathematik worin wir uns zusammenfanden. Das Schachspiel trat erst später hinzu, als wir längst schon Freunde waren und uns mit Vornamen anredeten. Er nannte mich beharrlich "Johannes", obgleich er mich in meinem Elternhause nie anders als "Hans" hatte rufen hören. Diese beiden Vornamen waren damals in Köln ganz ungebräuchlich; man kannte nur Johann mit einer unschönen Betonung auf der ersten Silbe und Jean, was, noch weniger schön, "Schang" (Diminutiv: Schängsche!) gesprochen wurde. Ich hatte stets eifrig protestirt, wenn einer der Lehrer sich meinen Vornamen in solcher Weise mundgerecht machen wollte, und dies war die Ursache, daß ich noch als Primaner manchmal mit Johannes aufgerufen wurde, obgleich es in den oberen Klassen nicht üblich war, die Schüler mit Vornamen anzureden. Auf diese Weise hatte auch mein Freund sich angewöhnt, mich Johannes zu nennen. Von mir wurde er sehr bald nur "Carlchen" genannt, und meine Eltern und Schwestern nannten ihn gleichfalls so. So ist es gekommen, daß wir einander mit Namen anredeten, die wir nach der Schulzeit von keinem anderen zu hören bekamen, und so ist es geblieben unser ganzes Leben lang."

Dem fast feierlich-förmlichen "Johannes" steht hier der Diminutiv "Carlchen" gegenüber. Kohtz erwähnt diese Namensverwendung scheinbar ganz selbstverständlich, obwohl er sich gerade erst gegen eine Deformation seines eigenen Vornamens verwahrt hat. Bei Durchsicht der Erinnerungen zeigt sich immer wieder, dass diese "Rollenverteilung" der Lebenshaltung der beiden im wesentlichen entspricht: Hier der selbstbewußte, zielstrebige und auch beruflich erfolgreiche Kohtz, dagegen der zurückhaltende, unendlich schüchterne, anspruchslose und von mangelndem Selbstvertrauen geplagte Kockelkorn, der, von schwächlichem Körperbau, zudem von seiner Mutter ängstlich umsorgt wurde. Kohtz schreibt: "Die verzärtelnde Fürsorge seiner Mutter - sie war längst schon Witwe und um das Leben dieses ihres einzigen Kindes ängstlich besorgt - versagte ihm jede körperliche Übung. Weder turnen noch schwimmen, ja nicht einmal tanzen hat er lernen dürfen; das wäre nach ihrer Überzeugung sein sicherer Tod gewesen. Natürlich war er auch zum Militärdienst nicht zu brauchen. Als er aber den Grad seiner Unbrauchbarkeit kennen gelernt hatte, war er doch sehr niedergeschlagen. "Sehe ich denn wirklich so erbärmlich aus?" fragte er mich, als er nach seiner letzten Musterung (1867) mich aufsuchte. Und dann erzählte er mir, wie es ihm vor der Untersuchungskommission ergangen war. Nicht einmal bis an ihren Sitz hatte der Vorsitzende ihn herantreten laßen. "Um Gottes Willen, fort!" hatte der ihm schon von weitem zugerufen, "machen Sie, daß Sie fortkommen! - Der Mann ist vollständig unbrauchbar."

Nachdem beide ihr Interesse am Schach entdeckt hatten, mussten sie erst einmal feststellen, wie schwierig, ja unmöglich es ihnen war, die im Illustrirten Familienjournal abgedruckten Probleme zu lösen. "Unser Gewinn aus dieser Schachspalte war nur die Erkenntnis, daß das Schachspiel sehr viel schwerer sein mußte als wir uns gedacht hatten. Nicht eine einzige der darin enthaltenen Aufgaben konnten wir herausbringen! Wie oft wir auch eine Lösung gefunden zu haben glaubten: wenn wir sie einander zeigen wollten, ging sie nicht mehr. Auch unseren vereinten Bemühungen ergaben sich diese Aufgaben nicht. Monatelang haben wir uns Woche für Woche an ihnen abgequält; es war, um den Muth zu verlieren." Um diese Zeit erwarb Kohtz einen alten Schmöker, der nichts als Schachaufgaben und ihre Lösungen enthielt. "Diese Aufgaben waren viel gefügiger als die des Familienjournals. Die meisten konnten wir sogar ohne große Mühe bezwingen. Darüber kam mir der Gedanke, daß es nicht schwer sein könne, dergleichen selbst zu erfinden. Das ungläubige Lächeln Carlchens reizte mich zu einem Versuch, und schon am nächsten Tage konnte ich kaum die Zeit erwarten, um ihm mein Resultat zu zeigen."

Nach ersten Kompositionsversuchen und begleitenden Fortschritten in der praktischen Partie gelang es endlich auch, "eine der Aufgaben des Familienjournals einwandfrei zu lösen. Es war ein Fünfzüger von Conrad Bayer. In unserer Freude glaubten wir, jeder Schwierigkeit gewachsen zu sein, mußten uns aber bald überzeugen, daß die meisten Aufgaben immer noch viel zu schwer für uns waren. Wer jene klassische Schachspalte kennt, der weiß, daß wir da durch eine harte Schule gegangen sind."

Bei abendlichen Schachbesuchen mußte Kohtz den Bilguer mitbringen. "Nur wenn mir die Idee zu einem Problem gekommen war, durfte ich ihn zuhause lassen. Zu diesen keineswegs seltenen Fällen pflegte ich meinen Freund schon beim Eintreten mit den Worten: "Ich habe eine Idee" zu begrüßen und dann sofort am Schachbrett niederzusitzen, um ihr Gestalt zu verleihen. Während ich aufbaute, suchte er die Idee zu errathen, und sehr bald komponirten und untersuchten wir gemeinschaftlich drauf los. So hat sich zwischen uns ganz von selbst jenes rasche Verständnis des Einen für jeden Wink des Anderen ausgebildet, wie es für ein gemeinschaftliches Schaffen zweier Komponisten ganz unerläßlich ist. Vorderhand waren es freilich nur meine Aufgaben, die auf solche Art zustande gebracht wurden, denn daran, daß auch er einmal eine Idee haben könne, dachte Carlchen noch nicht."

"Die Mitwirkung bei der Ausarbeitung meiner Ideen hatte ihm genügt. Plötzlich, zu Anfang des Jahres 1861, überraschte er mich mit einer eigenen Komposition. Ich sandte sie sofort nach Leipzig, und sie muß dort gut gefallen haben, da Max Lange sie schon im Februar veröffentlichte. Sie erschien aber nicht in der Schachzeitung, sondern in den Sonntagsblättern für Schachfreunde, einer Wochenschrift, die von ihm seit dem 6. Januar 1861 herausgegeben wurde und von uns mit Begeisterung begrüßt worden war. [...] Die Erstlingskomposition meines Carlchens hatte aber nicht unter seinem Namen erscheinen dürfen, weil seine Mutter dies nicht gestattete. Sie war als No. 39 in den Lange'schen Sonntagsblättern unter dem Pseudonym Kannengießer gedruckt worden." (Die Aufgabe erschien am 24.02.1861; der Erstling von Kohtz war im Mai 1860 in der Schachzeitung erschienen.)

Auf die weitere schachliche Entwicklung von K&K kann hier nicht näher eingegangen werden. Sie verlief stürmisch, schon bald beteiligten sie sich an Kompositionsturnieren, reisten mit ihrem väterlichen Freund und Förderer Kufferath zum ersten deutschen Schachkongress nach Düsseldorf (1861) und gründeten gleich danach den Kölner Schachklub. Als Kohtz im Oktober 1861 zum Studium nach Berlin abreiste, waren die schachlichen Aktivitäten beider vorerst beendet und wurden nur bei Kohtzschen Aufenthalten in Köln wieder aufgenommen. Dabei entstand 1862 auch ihr hier gezeigter Fünfzüger, den sie sich auf Anraten Kufferaths für ein großes Turnier aufhoben und der ihre Namen erstmals international bekannt machte (1.Kh5, 2.Kh6, 3.Kh7, 4.Kh8 nebst 5.Dh7#.)

J. Kohtz &
C. Kockelkorn

Französisches
Problemturnier 1865

wKh4, wDh3, wLc6, wSd1e6, wBg2, sKe4, sTc2d5, sLb1, sSh2, sBe5

#5 (6+6)

Kockelkorn hatte beabsichtigt, in Bonn zu studieren und den Lehrerberuf zu ergreifen. Allerdings zwang ihn die finanzielle Notlage seiner Mutter, die Schule vor dem Abitur zu verlassen und durch Nachhilfeunterricht das Familieneinkommen zu sichern. Kohtz schreibt: "Als ich im August 1865 nach Köln zurückkehrte, konnte Kockelkorn bereits auf eine fünfjährige Thätigkeit als Privatlehrer zurückblicken. Der Ruf seines erfolgreichen Unterrichts war längst über den Kreis der Realschule hinausgedrungen. Auch Gymnasiasten und junge Kaufleute waren unter seinen Schülern. In manchen Monaten war der Zudrang zu seinen Stunden so lebhaft, daß er sogar die Sonntag-Vormittage opfern mußte, um allen Wünschen zu genügen." Der Erfolg seines Unterrichts schlug sich leider nicht in seinen Einkünften nieder: "Als Kockelkorn zu unterrichten begann, stand er im 17 Lebensjahr. Er war Primaner gewesen, und es war selbstverständlich, daß er sich nach Primanerart bezahlen ließ: 10 Silbergroschen für die Stunde. Seither waren 5 Jahre verflossen, ohne daß er daran gedacht hätte, den Preis zu erhöhen." Kohtz suchte eine Gelegenheit, ihn daran zu erinnern, dass es so nicht weitergehen dürfe und meinte, er müsse "gleich von vornherein 15 Silbergroschen als Stundenpreis nennen. Er sei seinem Ansehen als Lehrer schuldig, daß er sich endlich über den Primaner-Standpunkt erhebe. Seine Antwort war der erneute Ausdruck seiner Ängstlichkeit, jenes Mangels an Selbstvertrauen, wovon ich leider schon wiederholt habe berichten müssen. Nicht einen einzigen Schüler würde er dann bekommen, dazu sei die Konkurrenz viel zu groß, erwiderte er. Nachdem ich wiederholt und eindringlich auf ihn eingeredet hatte, ohne daß er in dieser Überzeugung erschüttert worden wäre, versuchte ich, in seiner Mutter einen Bundesgenossen zu gewinnen. Aber da war ich aus dem Regen in die Traufe gerathen. Ob ich vielleicht ihrem Sohn ersetzen könne, was er dadurch an Einnahmen verlieren werde, fragte sie mich. Und dann bat sie mich himmelhoch, nie wieder mit ihm über dieses Thema zu sprechen. Ganz ohne Einfluß auf ihn seien meine Worte nicht, und es wäre sein und auch ihr Unglück, wenn er in dieser Sache auf mich hören wollte." So sollte es noch Jahrzehnte dauern, bevor Kockelkorn die Preise seiner Stunden anhob. "Wahrscheinlich ist die Preiserhöhung nicht einmal von ihm selbst ausgegangen, sondern ihm von einigen "besser gestellten Schülern" geradezu aufgedrungen worden, denen der Unterschied zwischen der Qualität und dem Preis seines Unterrichts dann doch zu auffallend erschienen war. Denn daß er seine Schüchternheit ohne starke Nachhülfe von außen gar so weit habe überwinden können, den höheren Preis ohne weiteres zu fordern, halte ich für ganz ausgeschlossen."

"Sollte man es für möglich halten, daß ein Mann mit so geringen Einnahmen noch Ersparnisse hat machen können? Es war sein Grundsatz, daß jedes Jahr einen ob auch noch so kleinen Überschuß ergeben müßte, sonst habe man schlecht gewirtschaftet. Natürlich mußte er darin durch eine sehr große Bedürfnislosigkeit unterstützt werden. Er rauchte nicht und trank weder Bier noch Wein, war überhaupt von keiner Gewohnheit abhängig. Theater und Konzerte besuchte er zwar ziemlich selten, indessen ließ er sich ein interessantes Stück oder einen berühmten Künstler so leicht nicht entgehen. Seine einzige Leidenschaft waren Bücher. Für Bücher hatte er stets Geld übrig. Seine Bibliothek war nicht sehr groß, aber erlesen. Außer seinen Unterrichtsfächern umfaßte sie alle Gebiete menschlichen Wissens, die seinem Verständnis zugänglich waren, aber fast gar kein Schach. Der Bilguer, der ihm als Nachschlagewerk unentbehrlich war, und eine Handvoll Problembücher, das ist alles was seine Bücherschränke an Schach enthielten. [...] Das was er seine Bibliothek nannte, hat er der Stadt Köln vermacht. Die Erben seines Vermögens hätten für seine Bücher kein Verständnis gehabt, und er wollte verhindern, daß das, was er mühevoll und mit Liebe zusammengetragen, durch den Antiquar in alle Winde zerstreut werde."

Richard Schulder war ein von Kohtz und Kockelkorn um 1876 entdeckter junger Komponist, "dessen Probleme schon nach wenigen Jahren ihren Weg weit in die Schachwelt hinaus fanden und von überall ungetheilten Beifall erhielten. Sehr produktiv erwies er sich nie, und in diesem Jahrhundert ist er sogar ganz schweigsam geworden. Er war unter der kleinen Zahl von Getreuen, die am 20. Juli 1914 meinen unvergeßlichen Freund Kockelkorn zum Grabe geleiteten." So endete das Leben eines unserer ganz großen Problemisten wenige Tage vor Ausbruch des 1. Weltkriegs, an dessen Ende auch sein Freund und Partner Kohtz verstarb.

 


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